Mit Omnicare war Oliver Tamimi nach eigenem Bekunden angetreten, um die Unabhängigkeit bei der Versorgung mit Sterilrezepturen durch Vor-Ort-Apotheken zu sichern. Tatsächlich ging es ihm wohl vor allem um die Ausweitung des eigenen Geschäfts, wie schon der Aufbau von MVZ-Strukturen in den vergangenen Jahren zeigt. In einem Gerichtsprozess tauchten jetzt brisante Verträge auf, mit denen sich Tamimi auch die Kontrolle über einen Apothekenstandort am Bodensee sicherte. Sogar der Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigte sich mit dem erbittert ausgetragenen Millionenstreit der früheren Partner, sah aber – wohl auch aufgrund der unübersichtlichen Gemengelage – keinen Handlungsbedarf.
Die Bodensee-Apotheke in Friedrichshafen war bereits Anfang der 1980er-Jahre durch Dr. Walter Nestle gegründet und erfolgreich ausgebaut worden. Ab 2009 führte sein Sohn Bernd Nestle den Betrieb weiter. Doch da hatte der Seniorchef den Standort schon an Tamimi verkauft und „zurückgemietet“: Wie aus den Gerichtsunterlagen hervorgeht, hatte er verschiedene Verträge mit diversen Unternehmen aus Tamimis Firmengeflecht geschlossen, in dem die einzelnen Gesellschaften ihre oft ähnlich klingenden Namen mitunter genauso schnell wechseln wie ihren Zuschnitt.
Neben den Geschäftsräumen mietete er auch die Einrichtung und Software, dazu schloss er verschiedene Serviceverträge. Der Clou aber war ein Optionsvertrag, der Tamimis Firma das bedingungslose Recht einräumte, den Geschäftsbetrieb mit einer Frist von sechs Monaten zum Quartalsende für 50.000 Euro zu übernehmen.
Noch bevor er – als von Tamimis Firma benannter Käufer – die Nachfolge seines Vaters antreten konnte, unterzeichnete auch Bernd Nestle entsprechende Vereinbarungen:
Im Januar 2009 wurden schließlich einen Rahmenvertrag über Dienstleistungen und darunter diverse Servicemodulverträge geschlossen, etwa für Qualitäts- und Prozesssicherung, Personalwesen oder Rechnungswesen und Controlling. Darin fand sich folgende Klausel: „Der Apotheker beauftragt den Anbieter schon jetzt mit der Erbringung der in der Anlage ausgewählten Leistungen.“ Per Nachtrag wurden die Stundensätze Anfang 2018 deutlich angehoben auf bis zu 250 Euro.
Zwischen 2012 und 2017 wurden laut Prozessakte außerdem insgesamt sechs Darlehensverträge geschlossen, die Gesamtsumme lag am Ende bei mehr als 1,9 Millionen Euro. Allerdings waren auch die Umsätze in dieser Zeit stark gewachsen: von 11 Millionen Euro im Jahr 2012 auf 24 Millionen Euro im Jahr 2018.
Im Juli 2018 kaufte Nestle außerdem die Beilharz-Apotheke in Isny. Damit kam erstmals ein eigenes Sterillabor hinzu. Auch für diesen Standort wurde ein Optionsvertrag geschlossen, wieder gab es neben der Pull-Option für Tamimi eine Put-Option für Nestle.
Noch im selben Jahr scheint es aber zum Bruch gekommen zu sein. Im Oktober wurde Nestle Inhaber der ehemaligen Kloster-Apotheke in Friedrichshafen, die zuvor ein anderer Zyto-Apotheker aus Weingarten bei Ravensburg als Filiale betrieben und Ende 2016 geschlossen hatte.
Ab dieser Zeit soll Tamimi Druck aufgebaut und ihm die Inanspruchnahme der Erwerbsoptionen angekündigt haben – und zwar für den vertraglich vereinbarten „Spottpreis“ von 70.000 beziehungsweise 50.000 Euro, wie Nestle vor Gericht zu Protokoll gab.
Drei Tage vor Weihnachten 2018 schlossen die beiden Parteien einen Aufhebungsvertrag: Nestle sollte die Darlehen nebst Zinsen bis Ende Februar zurückzahlen, insgesamt also knapp 2 Millionen Euro. Außerdem sollte er für die beiden Apotheken – ohne das Sterillabor in Isny – eine Abstandszahlung von 3 beziehungsweise 1,2 Millionen Euro leisten.
Als die Finanzierungsbestätigung ausblieb, übte Tamimis Firma am 5. Februar 2019 ihre Optionsrechte aus, wenige Tage später wurden sämtliche Darlehensverträge zunächst ordentlich mit einer Frist von zwölf Monaten, dann außerordentlich wegen einer angeblichen Verschlechterung der Vermögenswerte gekündigt.
Im Oktober 2019 unterzeichnete Nestle schließlich Kaufverträge für seine beiden Apotheken mit der heutigen Inhaberin, die Darlehen zahlte er jedoch nicht zurück. Daher ging die Sache vor Gericht, nach dem Landgericht Ravensburg (LG) und dem Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) befasste sich zuletzt der BGH mit der Sache.
Im Prozess gab sich Nestle als Opfer: Er sei nie wirklich Inhaber gewesen, sondern habe sich wie ein leitender Angestellter gefühlt und von den Geschäftskonten nur so viel entnehmen dürfen, wie ihm zugestanden worden sei. Dagegen sei Tamimis Firma durch ihre – überteuerten und teilweise überflüssigen – Beratungsleistungen mit durchschnittlich 1,4 Prozent am Umsatz beteiligt gewesen. Dank des Generalauftrags habe sie alle Zahlen gekannt und ihre eigene Vergütung danach ausrichten können. Den Versuch, am Erfolg seiner Apotheke zu partizipieren, habe er anfangs nicht durchschaut.
Auch die Darlehensverträge seien verdeckte stille Beteiligungen gewesen: Mit dem Ziel, ihn zielgerichtet zu verschulden, seien unaufgeforderte Geldzahlungen geflossen, für die erst im Nachhinein Verträge aufgesetzt worden sein. Gekündigt worden seien die Vereinbarungen auch nur deshalb, weil er zuletzt versucht habe, sich aus dem „Netzwerk Tamimi“ zu lösen. Auch eine sogenannte Betriebsprozessoptimierung im Jahr 2018 habe nur dazu gedient, ihn davon abzubringen, mit einem anderen Lohnhersteller für Zytostatika zusammenzuarbeiten.
Sein Schaden bestehe in den Entnahmen für Beratungsleistungen in Höhe von knapp 2 Millionen Euro sowie Mietzahlungen in Höhe von mehr als 1,1 Millionen Euro. Außerdem seien ihm Einkaufsvorteile in Höhe von knapp 1,3 Millionen Euro entgangen, weil er ohne den Umweg über Tamimis Firma durchschnittlich 1 Prozent höhere Konditionen bekomme.
All diese Behauptungen hatten den Zweck, die Darlehensverträge aufgrund eines Verstoßes gegen das Fremdbesitzverbot für ungültig erklären zu lassen. Nach § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sind nämlich alle Rechtsgeschäfte nichtig, die auf einer gesetzwidrigen Grundlage basieren. In § 12 Apothekengesetz ist dies sogar noch einmal für Verträge präzisiert, die ganz oder teilweise gegen Vorgaben zum Besitz und zur Leitung von Apotheken verstoßen.
Nachdem das LG keinen Hinweis auf eine Fremdbestimmung sah, kam das OLG zu einem anderen Ergebnis. Zwar liege kein Verstoß gegen § 8 ApoG vor, der eine stille Beteiligung an Apotheken genauso verbietet wie Vereinbarungen, die Dritte am Umsatz oder Gewinn beteiligt. Aus der Zusammenschau der verschiedenen Verträge ergebe sich aber, dass der Inhaber in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit stand und daher nicht zur unabhängigen Leitung der Apotheke gemäß § 7 ApoG in der Lage war.
Zur Herausgabe wurde Nestle aber trotzdem verpflichtet, genauso wie zur Zahlung der Zinsen. Einerseits sei eine Bereicherung ausgeschlossen, andererseits seien die zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden.
Der BGH kam nun zu dem Ergebnis, dass die Darlehensverträge doch wirksam seien. Zwar könne man annehmen, dass der Apotheker in einem unzulässigen Abhängigkeitsverhältnis gestanden habe, weil er aufgrund des bedingungslosen Optionsvertrags jederzeit damit rechnen musste, seine gut gehende Apotheke gegen Zahlung eines im Vergleich zum Umsatz äußerst geringen Kaufpreises zu verlieren.
Aber diesen Gefahren könne bereits durch die Nichtigkeit des Optionsvertrags begegnet werden, so der BGH: „Die aus dem Optionsvertrag folgende Einschränkung des Beklagten mag einen Verstoß gegen das Fremdbesitzverbot des § 7 Satz 1 ApoG darstellen.“ Ob dies der Fall sei, könne aber dahinstehen, weil dies zunächst lediglich die Nichtigkeit des Optionsvertrags begründen könnte.
Auch in der Gesamtschau der verschiedenen Vertragsbeziehungen konnten die Richter in Karlsruhe aufgrund der Beweislage keine unzulässige Abhängigkeit erkennen – jedenfalls keine, die über die Vereinbarung im Optionsvertrag hinausgehe.
Vielleicht konnten oder wollten die Gerichte aber auch gar nicht so genau hinsehen. Einerseits hatten Tamimis Anwälte einen Urkundenprozess angestrengt, in dem in der Regel nur die vorliegenden Dokumente geprüft und keine Zeugen gehört werden.
Andererseits könnte den Richtern auch schnell klargeworden sein, dass die Verhältnisse nicht ganz so schwarzweiß waren wie beschrieben. Während Tamimi bei Omnicare einen Finanzinvestor an Bord geholt und sein privates Firmengeflecht mittlerweile an seine Kinder überschrieben hat, kam auch Nestle offenbar schnell wieder auf die Beine. Jedenfalls führt er heute drei Apotheken in Friedrichshafen und ist auch in der Parenteraliaversorgung aktiv.
Und womöglich hat er sich auch von seinem früheren Partner „inspirieren“ lassen: In Ulm gibt es unter der Adresse der kürzlich geschlossenen Virchow-Apotheke auch eine gleichnamige Vermietungs- und Beratungsgesellschaft, an der neben der Inhaberin auch Nestle beteiligt ist. Die Apothekerin wiederum ist unter derselben Anschrift nun Geschäftsführerin einer Firma namens „Valetudo Apotheken GmbH“. Eine gleichnamige Apotheke wurde gerade im 800 Kilometer entfernten Rostock eröffnet – vom Seniorchef im Alter von 83 Jahren.
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