MySpring: Defektur-Trick und Rx-Werbung Patrick Hollstein, 18.02.2022 10:31 Uhr
Das Münchener Unternehmen Wellster Healthtech bietet mit GoSpring und MySpring eine Plattform für Rx-Medikamente. Doch nicht nur die Verschreibungspflicht, sondern auch andere Grundsätze des Arzneimittelrechts werden dabei tangiert. So wird jetzt gegen Haarausfall eine Finasterid-Lösung zum Auftragen auf die Haut angeboten – ohne dass es dafür eine Zulassung gäbe. Möglich macht es der Kauf einer Versandapotheke in den Niederlanden.
Auf der Plattform MySpring werden verschiedene Mittel gegen Haarausfall angeboten, vom Koffein-Shampoo über die Minoxidil-Kur bis hin zur Finasterid-Filmtablette. Eine Unterscheidung nach Produktstatus – Kosmetikum, OTC-Medikament oder verschreibungspflichtiges Arzneimittel – gibt es nicht, bei Bedarf wird kurzerhand ein entsprechendes Privatrezept ausgestellt. Alle Produkte werden symbolisch als Eigenmarken dargestellt; erhältlich sind auch Bundles wie Daily Pack, Power Pack oder Medical Pack.
Jüngster Neuzugang ist eine Lösung mit Finasterid 0,1 Prozent und Minoxidil 3 Prozent sowie Koffein zur „lokalen Behandlung erblich bedingten Haarausfalls“. Das Portal verspricht „doppelte Wirkstoff-Power – vereint in einem Spray“: Die „revolutionäre Formel“ sei „EU-weit einzigartig“ und die „effektive Lösung gegen erblich bedingten Haarausfall.“ Im Influencer-Style wird das Produkt bei Facebook & Co. offensiv beworben.
Da Finasterid verschreibungspflichtig ist, müssen interessierte Kunden auch hier einen Fragebogen ausfüllen, der von einem der in Irland oder Großbritannien ansässigen Ärzte von MySpring kontrolliert und freigegeben wird. Abgefragt werden etwa Alter, Geschlecht, Allergien und Vorerkrankungen oder Dauermedikation.
Nach nur wenigen Klicks ist man am Ziel und kann die Bestellung aufgeben. Erworben werden kann eine Flasche à 50 ml zum Preis von 55 Euro, alternativ kann auch gleich ein Monatsabo abgeschlossen werden, sodass das Behandlungsentgelt von 19 Euro entfällt. Als spezielles Angebot zum Valentinstag („Love is in the (h)air – Be your own Valentine“) gibt es aktuell auch einen Doppelpack für 77 Euro, die Gebühr für das Ausstellen des Rezepts wird dabei via Gutscheincode erlassen. Ohnehin wird immer wieder mit Rabattaktionen geworben – die Reduzierung der Rx-Preisbindung auf den GKV-Bereich durch den früheren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) macht es möglich.
Das Problem: Ein solches Fertigarzneimittel gibt es gar nicht – weder ist eine Kombination aus Finasterid und Minoxidil erhältlich, noch Finasterid als topische Darreichungsform. Das einzige in der EU zugelassene Finasterid-Spray zur Anwendung auf der Kopfhaut ist Finjuve; das Präparat des Herstellers Polichem wird in Deutschland aber nicht vertrieben.
„Für eine Defektur entschieden“
Wie also kann MySpring ein Medikament anbieten, das mangels Zulassung eigentlich nicht verkehrsfähig ist? Die Lösung erfährt man, wenn man den Fragebogen erfolgreich ausgefüllt hat: „Du hast Dich für eine Defektur entschieden, die zwei nachweislich effektive Wirkstoffe gegen anlagebedingten Haarausfall enthält: Minoxidil und Finasterid.“
Weiter wird erklärt, dass die „mit uns kooperierenden Apotheken“ die vom Arzt verordnete Kombination anfertigen und daher – gemäß Definition nach Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) – keine Zulassung brauchen: „Im Gegensatz zur industriellen Fertigung sind Defekturchargen mengenmäßig begrenzt, werden Defekturarzneimittel ausschließlich von pharmazeutischem Fachpersonal hergestellt, handelt es sich bei Defekturarzneimitteln um Zubereitungen, die für spezifische Bedürfnisse kleinerer Patient:innengruppen hergestellt werden und daher von der Zulassungspflicht sowie der damit einhergehenden Evaluierung durch staatliche Behörden ausgenommen sind.“
Bestätigt man die mitgeteilten Informationen („Habe ich verstanden“), kann man den Kauf abschließen. Welche Apotheke das Präparat herstellt und liefert, erfährt man bis zur Bezahlung nicht – und dies, obwohl laut MySpring bei apothekenpflichtigen Arzneimitteln der Kaufvertrag „direkt zwischen dem Endkunden und der Versandapotheke“ entsteht.
Eigene Versandapotheke
Aktueller Partner von MySpring ist laut AGB die „Apotheek Bad Nieuweschans“ – der niederländische Versender ist unter der Domain Apons.de zu erreichen und gehört nach Informationen von APOTHEKE ADHOC seit Kurzem zur Wellster-Gruppe. Bis zu 100 Packungen pro Tag könnte die Apotheke als Defektur herstellen, dann wäre nach deutschem Apothekenrecht Schluß. Eine Skalierung wäre dem mit einem hohen zweistelligen Millionenbetrag bewerteten Unternehmen in dieser Konstruktion nicht möglich.
Auf Nachfrage erklärt ein Sprecher, dass man das topische Finasterid seit Oktober anbiete. „Die Apotheke Nieuweschans ist seit Stunde Eins, neben der Noventi Gruppe, unser Partner und wir sind froh, auch die Zukunft gemeinsam mit ihr sowie den angeschlossenen 8.000 Vorort-Apotheken gestalten zu können.“ Laut den AGB von MySpring hat der Endkunde die Möglichkeit, sich sein Rezept ausstellen und zusenden zu lassen oder „die Übermittlung an eine an die von der Noventi Healthcare GmbH betriebene Deutsche Apothekenplattform (DDAP) angeschlossene vor-Ort-Apotheke zu wählen“.
Darüber hinaus habe jede Apotheke die Möglichkeit, topisches Finasterid als Defektur herzustellen, so der Sprecher weiter. „Auf Rückfrage des Patienten, kann dieser die Rezeptur erhalten und bei seiner Wunschapotheke herstellen lassen.“ Das ist allerdings nicht unproblematisch: Laut NRF ist zwar eine Rezeptur für einen Finasterid-Haarspiritus mit 0,25 Prozent aus der Apothekenpraxis bekannt, diese sei jedoch nicht standardisiert. Konkrete Herstellungsvorschriften sind nicht dokumentiert.
Voraussetzung für die Herstellung einer Defektur ist laut Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) die häufige Verschreibung durch Ärzte. Dadurch soll sichergestellt werden, dass Zubereitungen die Ausnahme bleiben – und nicht in Konkurrenz zu zugelassenen Präparaten stehen. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte 2017 sogar schon entschieden, dass nicht von Defekturen auszugehen ist, wenn diese „nicht für den einzelnen Patienten nach ärztlicher Anordnung hergestellt, sondern für alle potentiellen Kunden beworben [werden], die das Arzneimittel sodann über die Versandapotheke des Beklagten bundesweit erwerben können“.
Bei Wellster sieht man diesbezüglich trotzdem kein Problem: Zwar gebe es in Deutschland bislang kein Fertigarzneimittel. „Dennoch ist es bei der Ärzteschaft allseits bekannt und wegen seiner anerkannten Wirkung sehr beliebt. Es wird inzwischen regelmäßig von Dermatologen verordnet und entsprechend von verschiedenen Apotheken in unterschiedlichen Ausführungen und Zusammensetzungen hergestellt.“ Dies geschehe entweder als Rezeptur oder im Falle regelmäßiger Verordnungen als Defektur.
Plattform ist nicht Vertreiber
MySpring ist dabei laut Sprecher außen vor: „Wir vertreiben das topische Finasterid nicht – dies tut ausschließlich die Apotheke, der das sogenannte Apothekenprivileg zugute kommt und deswegen insbesondere in Bezug auf das topische Finasterid als Defektur keiner Zulassung bedarf.“
Umso frappierender lesen sich vor dem Hintergrund der fehlenden Zulassung auch die weiteren Aussagen zum Produkt, das als „nebenwirkungsarme Alternative zur klassischen Finasterid-Therapie“ beworben wird. Versprochen wird den Nutzern eine „neue Generation Deiner Haare“. Das „einfach zu dosierende Spray“ lasse sich „problemlos in die alltägliche Pflegeroutine integrieren“, „stoppt Deinen Haarausfall und regt das Haarwachstum an, erste Ergebnisse nach drei Monaten“.
Woher nimmt MySpring diese Erkenntnisse? Immerhin wird ein detaillierter Therapieplan vorgelegt, nach dem der Haarausfall nach drei bis sechs Monaten stoppt und man nach sechs bis zwölf Monaten „zurück zu voller Haarpracht“ kommen könne. Der Sprecher verweist auf eine Phase-III-Studie der Charité mit 458 Teilnehmern, nach der es keinen signifikanten Unterschied in der Haardichte zwischen oralem und topischem Finasterid gibt, während die Konzentration im Blut bei dermaler Anwendung 100-fach geringer sei.
Arzt plus Influencer
Auch auf der Website wird auf zwei Studien verwiesen – und auf die Meinung von Professor Dr. Dietrich Abeck von der TU München: „Das Gesamtpaket zur Behandlung des männlichen Haarausfalls folgt einem multimodalen Therapieansatz“, wird der Mediziner zitiert, der genauso Mitglied im Beitrat von Wellster ist wie Hans Michler von der Nymphenburger Apotheke in München und Dr. Nursel Yeşilkuş, Dermatologin aus Berlin. „Wir kombinieren Finasterid, ein orales Mittel, mit Minoxidil, einem topischen Präparat – beide aus der Apotheke. Ihre Wirksamkeit ist wissenschaftlich nachgewiesen, am besten bei gemeinsamer Anwendung der beiden Präparate. So kannst Du effektiv und sicher Deinen Haarausfall stoppen.“
Abeck ist aber nicht das einzige Testimonial, das für die Eigenentwicklung wirbt: Unter „Erfolgsgeschichten“ wird Anwender Mike zitiert mit der Aussage: „Es dauert zwar eine Weile, aber mittlerweile sehe ich erste Verbesserungen. Ich bin gespannt, und bleibe am Ball.“ Sebastian (33) erklärt: „Mittlerweile nehme ich seit circa 2 Jahren Finasterid und konnte bisher keinerlei Nebenwirkungen beobachten.“ Und Georg (23) lobt „die schnelle Abwicklung, die gute Kommunikation, die schnelle Lieferung inkl. einer ‚Rezeptanleitung für Dummies‘“. Auch in den sozialen Medien trommeln Blogger und Influencer offensiv für das Produkt.
Regelrecht absurd wird die Sache, wenn man als Interessent über 41 Jahre alt ist. Dann nämlich muss man bestätigen, dass der Wunsch, Finasterid anzuwenden, bereits mit einem Urologen abgesprochen und von diesem bestätigt worden ist. Denn in diesem Fall handele es sich um einen Off-Label-Use, also eine Anwendung außerhalb der Zulassung – die es in diesem Fall gar nicht gibt. „Aufgrund der gesetzlich verankerten Therapiefreiheit ist Ärzten eine zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln erlaubt, und zwar insbesondere dann, wenn eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Analyse ergeben hat, dass die Vorteile der Behandlung des Leidens mit dem Off-Label-Präparat im Verhältnis zu der Behandlung mit einem On-Label-Präparat wirksamer und/oder risikoärmer ist“, so MySpring.
Genauso argumentiert der Unternehmenssprecher auf Nachfrage: „Orales Finasterid ist ein Fertigarzneimittel und ist nur bis zum 40. Lebensjahr zugelassen; ab dem 41. Lebensjahr würde die Verordnung also tatsächlich einen Off-Label-Use darstellen. Im Einzelfall kann ein Arzt bei erfolgter Aufklärung ein Medikament auch Off-Label verschreiben, was in der klinischen Praxis ein gängiges Prinzip ist.“
Zu Risiken und Nebenwirkungen
Und selbst mit den teils schwerwiegenden Nebenwirkungen von Finasterid sollen die Anwender alleine gelassen werden: „Ich bestätige hiermit, dass ich vor Anwendung des verschriebenen Medikaments die Packungbeilage und den Aufklärungsbrief durchlesen werde. Zudem ist mir bewusst,
- dass das Medikament nicht von Personen benutzt werden darf, die biologisch weiblich oder intersexuell sind,
- dass ich bei Geschlechtsverkehr zusätzlich mit Kondom verhüten muss,
- dass ich bei neu auftretenden Brustvergrößerungen sofort einen Arzt aufsuchen muss,
- dass bei bekannter Prostatahyperplasie die PSA Werte verfälscht sein können,
- dass das Medikament zum Libidoverlust und zu Impotenz führen kann,
- dass das Medikament zu depressiven Verstimmungen und dem Post-Finasterid-Syndrom führen kann,
- dass das Medikament nicht bei Leber- und Nierenfunktionsstörungen eingenommen werden sollte,
- dass ich bei neu auftretenden zusätzlichen Nebenwirkungen, die hier nicht aufgelistet sind, sofort einen Arzt aufsuchen muss und
- dass ich, wenn innerhalb von 3-4 Monaten keine Verbesserungen eingetreten sind, einen Arzt aufsuchen muss.“
Nicht erwähnt wird, dass Finasterid für einen anhaltenden Therapieerfolg dauerhaft angewendet werden muss, es aber gleichzeitig laut Fachinformation zu Finjuve keine klinische Erfahrung über sechs Monate hinaus gibt. Dazu der Sprecher: „Finasterid ist die Erstlinientherapie bei erblich bedingten Haarausfall. Die Wirkung tritt erst nach drei bis sechs Monaten ein, was in der Literatur bekannt ist. Dadurch ist nur eine langfristige Behandlung sinnvoll. Wir klären ausführlich über Nebenwirkungen auf, müssen aber darauf hinweisen, dass das Finasterid die wirksamste Therapie in dieser Indikation ist. Haarausfall kann psychisch stark negativen Auswirkungen auf Männer haben. Eine telemedizinische Behandlung mit dem Präparat auch weit verbreitet und unserer Meinung nach auch angemessen.“