Patientenversorgung

Lieferengpässe: Alle sind genervt, aber wer ist schuld? Nadine Tröbitscher, 24.10.2018 07:57 Uhr

Berlin - 

Über Lieferengpässe spricht niemand gerne: Wer will schon einräumen, dass er Probleme in einer Fabrik oder mit einem Lieferanten hat? Apotheken und Patienten ist damit nicht geholfen, sie müssen rechtzeitig wissen, wann ein Produkt fehlt und was die Alternativen sind. MSD Sharp & Dohme musste in den vergangenen Monaten gleich bei mehreren Arzneimitteln die Abgabemengen begrenzen. Der Konzern will transparent sein und steht Rede und Antwort.

Höhere Gewalt: Celestamine N 0,5 liquidum (Betamethason) war in der Bienen- und Wespensaison nur eingeschränkt beziehungsweise für kurze Zeiträume gar nicht lieferbar. Ursache war eine Cyber-Attacke im vergangenen Jahr, die neben zahlreichen anderen Unternehmen auch den Arzneimittelhersteller traf. Die Folgen für die Produktion sind bis heute zu spüren. Der europäische Bedarf des Notfallarzneimittels wird allein durch eine Produktionsstätte in Frankreich gedeckt. Außerdem ist Celestamine das einzige flüssige Betamethason auf dem deutschen Markt – nicht zuletzt weil die Lösung instabil und schwer herzustellen ist. Eine Kontingentierung war zur Sicherstellung der Notfallmedikation unausweichlich.

Dennoch ist die Prognose für 2019 positiv. „Die Produktion läuft derzeit wunderbar. Wir hoffen, bis Januar gut bevorratet zu sein, um einen guten Bestand aufzubauen“, sagt Christian Glatt, Head Trade Affairs. Die Abteilung beschäftigt etwa 20 Mitarbeiter.

Während der turbulenten Zeit um Celestamine seien etwa 10.000 Rezepte pro Monat direkt bei MSD eingegangen, die in der Regel in ein bis zwei Tagen bedient wurden, so Glatt. Der Hersteller hatte sich von den Apotheken die Verordnungen faxen lassen, um sicherzustellen, dass die Ware bei den am dringendsten darauf angewiesenen Patienten ankommt.

Im Juli gingen sogar 40.000 Lieferungen kontingentierter Arzneimittel an die Apotheken. „Kollegen aus anderen Abteilungen haben uns geholfen, die Bestellungen abzuarbeiten und den logistischen Aufwand zu bewältigen.“ Glatt versichert: „Wir wollen keine Direktbestellung. Wir können bestenfalls zum nächsten Tag liefern, der Großhandel liefert noch am gleichen Tag und das mehrmals täglich. Wir wollen den Vertriebsweg nicht ändern, denn Logistik ist nicht unser Thema. Das ist gar nicht unsere Expertise.“

Glatt kann die Apotheker und deren Ärger über die Direktbestellung verstehen. „Apotheker haben auch einen großen logistischen Aufwand. Bestellung und Verbuchung der Ware nehmen deutlich mehr Zeit in Anspruch und die Großhandelsrabatte bleiben aus.“ Aber eine Kontingentierung sei die einzige Möglichkeit gewesen, den Bedarf zu decken und Hamsterkäufe zu verhindern.

Ware wird ins Ausland abgezogen: Das Arzneimittelgesetz verpflichtet den pharmazeutischen Hersteller, den entsprechenden Patientenbedarf bereit zu stellen. Der Großhandel muss jedoch den Bedarf der Apotheken decken. Und hier liegt das Problem. Der Hersteller berechnet den Bedarf anhand der Anzahl der Verordnungen – sowohl zu Lasten der Kassen als auch Privatrezepte – über einen bestimmten Zeitraum. Glatt rechnet vor: Werden von einem Präparat 100.000 Verschreibungen ermittelt, wird diese Menge plus ein voraussichtlicher Mehrbedarf produziert.

Bestellt der Großhandel deutlich mehr als sonst und wird mehr nachgefragt als prognostiziert, wird die Situation im Markt hinterfragt. Entsprechen die Verordnungszahlen der Prognose, ist ein Mehrbedarf auf dem deutschen Markt unwahrscheinlich. „Wir setzen uns jede Woche zusammen und vergleichen, ob der ermittelte Versorgungsbedarf mit dem tatsächlichen Bedarf übereinstimmt.“

AMNOG/Preistransparenz: Auch das AMNOG Verfahren kann zu einem Lieferengpass beitragen. Kommt ein neues Arzneimittel auf den Markt, ist der Preis für maximal ein Jahr fest. Danach gilt der in Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband ermittelte Preis. Wurde dem Arzneimittel kein Zusatznutzen zugesprochen, kann es mitunter schwer werden, den Preis zu halten. „In 99 Prozent aller Fälle liegt der verhandelte Preis unter dem Preis, mit dem das Medikament auf den Markt gebracht wurde“, sagt Dr. Udo Engel, Manager Trade Channel. „Das AMNOG Verfahren macht Deutschland zum Exportland“, ergänzt Glatt, „denn durch die niedrigeren Preise in Deutschland werden netto seit einigen Jahren mehr Medikamente aus Deutschland exportiert als importiert.“

Ein Beispiel: Kostet ein Arzneimittel in Deutschland 100 Euro und in einem anderen EU-Land 150 Euro, zieht dieses Land Ware vom deutschen Markt ab. Diese fehlt dann hierzulande, weil der Export nicht im deutschen Versorgungsbedarf berücksichtigt wurde. Auf der anderen Seite ist die Ware im anderen EU-Land – für das ebenfalls entsprechend dem Versorgungsbedarf produziert wurde – zu viel.

STIKO-Empfehlung: Neue Empfehlungen der Ständigen-Impfkommission (STIKO) können ebenfalls für Engpässe sorgen. Aktuelles Beispiel ist Gardasil 9. Die Experten haben die Vakzine nun auch für Jungen empfohlen. Die Produktion hat einen Vorlauf von mehreren Jahren. Dennoch ist angesichts der aktuellen Empfehlung kein Engpass zu befürchten, denn der deutsche Markt wird laut Glatt bevorzugt beliefert. Zwar steige aktuell zum Beispiel die Nachfrage im riesigen Markt China – mehrere Millionen Impfdosen würden benötigt. Deshalb werden neue Produktionsstätten eingerichtet und zum Teil auch der Launch von Gardasil 9 in anderen Märkten verschoben, um die Versorgung zu gewährleisten.