Apotheken bieten ihren Kunden meistens an, kostenlos relevante Gesundheitsdaten zu erheben. Klingt gehoben, heißt in der Praxis, die Oma auf die Waage zu stellen und vielleicht noch Blutdruck oder Blutzucker zu messen. In Linda-Apotheken können die Kunden damit künftig sogar Geld verdienen – wenn ihre Werte stimmen. Denn die Apothekenkooperation macht bei dem Versicherungsmodell Generali Vitality mit, das sich mit pervers ganz gut beschreiben lässt. Ein Kommentar von Alexander Müller.
Die meisten Menschen starten mit guten Vorsätzen ins neue Jahr: abnehmen, mehr bewegen, aufhören zu rauchen. Der Blockbustermonat von Almased ist der Januar und die Fitnessstudios verzeichnen im ersten Quartal die meisten neuen Mitglieder. Im April sind die Laufbänder dann meist wieder leer und erst die panischen Rückkehrversuche zur Bikinifigur im Sommer lösen die nächste Diätwelle aus.
Jeder weiß, dass es besser ist, mehr Sport zu machen und sich gesünder zu ernähren. Vielen helfen positive Anreize und Ermunterung von außen, um die guten Vorsätze umzusetzen. Deshalb gibt es Lauftreffs, deshalb werden 5-Kilo-Wetten abgeschlossen. Auf den ersten Blick ist es deshalb charmant, wenn der italienische Versicherungskonzern Generali seinen Mitgliedern Rabatte dafür anbietet, dass sie gesünder leben. Den Kunden geht es besser, die Kunden verursachen weniger Kosten, der Generali geht es besser. Super.
Versicherungskonzern wird man nicht, wenn man naiv ist oder ein allzu positives Menschenbild hat. Die Generali hält ihre Versicherten offenbar nicht nur für inkonsequent und faul, sondern auch für unehrlich. Einen Rabatt auf die Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherung erhält nicht, wer beteuert, täglich joggen zu gehen. Das muss mit einem Fitnessarmband erst noch bewiesen werden.
Was ich selber denk und tu, trau ich jedem Anderen zu. Lügen zum Beispiel. Die Generali behauptet tatsächlich, Sportmuffel und Kneipenfans nicht zu benachteiligen. Schließlich gebe es nur Boni und keine Strafgebühren. Noch das beschränkteste Milchmädchen kann sich an den Fingern abzählen, was es für den anderen Teil einer Versichertengemeinschaft bedeutet, wenn der eine weniger bezahlen muss. Dass sich die Boni vollständig über sinkende Kosten refinanzieren, wird gern behauptet, verstellt aber den Blick darauf, welche Klientel für eine Versicherung am attraktivsten ist. „Risikogerechte Tarifierung“ ist ohnehin ein Grundprinzip. Und der Konzern versichert, dass auch das Kollektiv der Couchpotatoes groß genug bleiben werde.
Das Argument, die Teilnahme sei freiwillig, ist scheinheilig. Die Nutzung sämtlicher Dienste von Google ist auch freiwillig, passiert aber zwangsläufig unter den Spielregeln von Google. Und wenn irgendwann alle Versicherungen Boni für Daten-Striptease zahlen, werden die prüden Verweigerer zwangsläufig bestraft. Dazu müssen keine Mali verhängt werden – ein überhöhter Grundbetrag reicht vollkommen aus.
Wer das etablierte Punktesammeln des Vordermanns an der Supermarktkasse für einen kleinen Rabatt auf ein Topf-Set oder Badetücher schon entwürdigend findet, darf sich demnächst auf noch peinlichere Vorstellungen freuen: Wenn die Kassiererin schelmisch fragt: „Na, Generali-versichert?“ – weil sie den Warentrenner zwischen Biomöhren und Tiefkühlpizza natürlich schon kennt. Werden sich Studenten demnächst stundenweise verkaufen, um mit den Fitnessarmbändern Dritter laufen zu gehen? Vielleicht ist die Generali noch nicht misstrauisch genug.
Dass alle einmal erhobenen Daten verkauft, entwendet oder missbraucht werden können, ist zwar ein sehr pauschaler Kritikpunkt, bei Gesundheitsdaten wiegt er aber naturgemäß schwerer als bei Urlaubsfotos oder sonstigen Selbstentkleidungen in der neuen digitalen Welt. Und was die Selbstbestimmtheit und Freiwilligkeit angeht, hat der Einzelne nur solange die Wahl, wie der Markt sie ihm lässt. Und es gibt eine Versicherungspflicht.
Generali liefert selbst die Antwort auf die Frage, was mit „Vitality-Mitgliedern“ passiert, die krank werden. Deren Prämie steigt nicht an. Der Kunde könne weiterhin „aktiv Punkte sammeln und damit seinen Vitality Status beeinflussen“. Welchen Einfluss eine Laufeinheit mit Fieber auf den tatsächlichen „Vitality Status“ hat, kann man bei seinem Hausarzt erfragen.
Oder in der nächsten Linda-Apotheke. Denn die Kooperation ist sich leider nicht zu schade, den Steigbügelhalter für diese Verhaltenskontrolle zu geben. Man empfindet die Zusammenarbeit mit der Generali sogar als „Auszeichnung“. Möglicherweise haben frühere Verwicklungen in kreative Steuersparmodelle die Hemmschwelle sinken lassen. Jedenfalls ist man wieder „Vorreiter“, und das allein reicht anscheinend manchmal.
Es bleibt zu hoffen, dass die Versicherten sich nicht erpressen lassen. Grund zur Hoffnung besteht, denn die Deutschen sind aus Konzernsicht unangenehm zurückhaltend, was ihre Daten betrifft. Wer nicht einmal sein Haus von Google fotografieren lassen möchte, lässt die Generali kaum in den Kühlschrank schauen.
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