Schwangerschaftsberatung als Start-up

Kinderheldin: Telemedizin-Champion in der Nische

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Berlin -

Der Telemedizinmarkt wächst rasant und verändert sich. Während in der Öffentlichkeit vor allem Kry, Zava und Teleclinic als die großen Player wahrgenommen werden, machen es sich immer mehr kleinere Anbieter in der Nische bequem. Der gehört die Zukunft, sagt Paul Hadrossek. Der studierte Zahnarzt ist auf erfolgreichen Abwegen: Er hat mit Kinderheldin einen Telemedizin-Anbieter gegründet, der auf Hebammenversorgung spezialisiert ist. Denn auch das prägt die Nische: Je konkreter das Angebot, desto eher können durch innovative Angebote Versorgungsengpässe gemildert werden. Auch für Apotheken sieht er einen möglichen Mehrwert in seinem Angebot.

Die Hebammenversorgung ist seit Jahren ein Problemkind des deutschen Gesundheitswesens. Vielerorts klagen Familien und die, die es noch werden wollen, darüber, dass sie keine Hebamme bekommen. Die Hebammen selbst wiederum klagen über die Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen. Die Covid-19-Pandemie hat das noch einmal verschärft: Hebammen sind durchs Raster gefallen, als über systemrelevante Berufe diskutiert wurde. Die Folge: In vielen Bundesländern fiel bei der öffentlichen Beschaffung von Schutzmaterialien nichts für sie ab.

„Bei der Hebammenversorgung treten wir in Deutschland ein bisschen auf der Stelle“, sagt Hadrossek. „Es gibt zwar viele, aber viele arbeiten nicht in dem Bereich.“ Hinzu kommt ein Problem, das die flächendeckende Versorgung mit Geburtsthelferinnen von der mit Apotheken und Ärzten unterscheidet: „Eine Unterversorgung herrscht nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Großstädten.“ Denn für viel ausgebildete Hebammen sehe die Wahl des Arbeitsplatzes nicht besonders rosig aus, erklärt Hadrossek. „Entweder sie arbeiten in Kliniken zu einem normalen Verdienst, müssen dafür aber Schichten arbeiten gehen, oder sie machen sich selbstständig. Das ist aber finanziell sehr riskant und sie haben keine festen Arbeitszeiten, sondern sind immer auf Abruf.“ Ausgerechnet für Hebammen ist ein familienfreundliches Arbeitsleben also ein kaum erreichbares Ideal.

An beiden Enden der Versorgungskette will Hadrossek mit Kinderheldin Abhilfe schaffen. Dabei kommt er selbst gar nicht aus der Branche, sondern ist eigentlich Zahnarzt. „Ich habe sechs Jahre an der Uniklinik Münster gearbeitet, mich aber schon damals immer gefragt, wie wir die Patienten künftig versorgen. Denn in den nächsten 30 Jahren, die ich noch arbeiten muss, wird sich da sehr viel ändern“, sagt er. Nach der Uniklinik baute er mit einem Freund ein MVZ auf und schaute dabei, mit welchen Maßnahmen er dort die Arbeitsbedingungen von Ärzten neugestalten kann. Doch auch dort fand er nicht die richtigen Antworten auf seine Fragen. Also ging er drei Jahre nach der MVZ-Gründung nach Berlin, in die deutsche Start-up-Hauptstadt. „Alle suchen dort im Moment nach Lösungen, aber keiner weiß so richtig, wie. Als ich mir dann die Telemedizin angeschaut habe, fiel mir die Nische Schwangerschaftsberatung auf.“

Denn gerade in dem Fall könne die Telemedizin einen großen Beitrag dazu leisten, eine absolute Unterversorgung zu beheben. Gemeinsam mit Start-up-Spezialist Fabian Müller gründete er 2017 Kinderheldin. „Es war für mich der Antrieb als Mediziner, zu zeigen, wie es geht“, sagt Hadrossek. Und als Arzt mit Berufs- und Geschäftserfahrung weiß er auch, auf welchem Weg das gehen soll: Kinderheldin setzt nicht auf die Kooperation mit freiberuflichen oder niedergelassenen Hebammen und die Marktdurchdringung mittels Selbstzahleransprache, sondern auf festangestellte Geburtshelferinnen und die Verankerung im Gesundheitswesen. „Ich predige das seit Jahren: Die ganze Start-up-Industrie hat in anderen Bereichen wie Finanzen oder Werbung schon sehr viel verändert, deren Investoren denken aber immer noch, man müsse möglichst schnell möglichst viele Leute erreichen“, sagt Hadrossek. „Aber so funktioniert das Gesundheitswesen nicht.“ Mit einem „generalistischen Ansatz“ komme man da nicht weit, stattdessen müsse man die einzelnen Sektoren des Gesundheitswesens als jeweils eigenen Markt mit eigenen Spielregeln betrachten.

Auch deshalb setzt er bei Kinderheldin nicht auf das gängige Plattformmodell. „Wir sind der einzige Telemedizinanbieter, der mit selbst angestellten Leistungserbringern arbeitet“, sagt Hadrossek. „Die Hebammen sind Teil unseres Teams. Das hat den Vorteil, dass wir immer umgehend jemanden anbieten können und nicht warten müssen, bis eine Hebamme auf der Plattform ist und einen Auftrag annehmen kann.“ Ein knappes Dutzend ist mittlerweile an Bord. Allerdings war die strategische Entscheidung nicht die für den leichtesten Weg: „Das war am Anfang auch ein großes Risiko, schließlich mussten wir viel Zeit und Geld in den Aufbau investieren.“

Doch der leichteste Weg war Hadrosseks Sache ohnehin nicht, auch beim Erlösmodell. „Uns war auch von Anfang an klar, dass wir Verträge mit den Krankenkassen machen wollen, denn die Zahlungsbereitschaft in der Gesundheitsversorgung ist hierzulande gering“, sagt er. „Damit wir das machen können, müssen wir aber selbst wie eine Praxis oder eine Klinik denken.“ An eigenen Qualitätsstandards und einem medizinischen Beirat samt Gynakologin, Psychologin und Facharzt einem Facharzt für Pädiatrie führte deshalb kein Weg vorbei. Und bisher geht der Plan auf: Seit Anfang 2019 konnte Kinderheldin Verträge mit 53 Krankenversicherungen abschließen, darunter zahlreiche Betriebskrankenkassen von Audi bis zur Diakonie, aber auch Schwergewichte wie die Barmer oder die DAK. Die Kassen stellen ihren Versicherten dann die Beratungsleistungen kostenfrei zur Verfügung, meist über Gutscheine. Die examinierten Hebammen sind dann auch an Sonn- und Feiertagen zwischen 7 und 22 Uhr für Beratungen erreichbar, darüber hinaus werden zahlreiche Onlinekurse von Schwangerschaftsmeditation bis Geburtsvorbereitung angeboten. Eine App oder andere zusätzliche Anwendungen brauchen die schwangeren Frauen nicht, alles Services sind über die gängigen Browser auf Computer oder Smartphone abrufbar.

Die Nutzerzahlen seien „im fünfstelligen Bereich“, sagt Hadrossek. „Genauer lässt sich das teils wegen der Verträge mit den Kassen nicht aufschlüsseln.“ Die Verträge sind alle SGB5-konform – und haben Hadrossek gezeigt, dass sein Ansatz aus dem Inneren des Gesundheitssystems der richtige ist. Denn Telemedizin – und deren Abrechnung – ist für die Versicherer nach wie vor Neuland. „Eigentlich bauen wir die Verträge für die Kassen“, sagt er. Experten, die sich sowohl im Sozialrecht als auch den medizinischen, technischen und geschäftlichen Aspekten der Telemedizin auskennen, sind rar gesät. „Man muss dabei ein Modell bauen, das möglichst nahe an deren Modell ist.“

Das ist aber nicht nur eine Dienstleistung für die Kassen, um selbst an die entscheidenden Geldtöpfe zu kommen, sondern auch ein bedeutender Baustein der eigenen Weiterentwicklung. „Die Zielgruppe Schwangere und Eltern ist für die Kassen sehr relevant, Orientierung und Prävention ebenfalls“, erklärt Hadrossek. „Wir betrachten das deshalb auch als Entwicklungskooperation und versuchen herauszuarbeiten, wo für die jeweiligen Kassen die Mehrwerte liegen. Denn da gibt es Riesenunterschiede.“

Und nicht nur Kassen zählen zu den Kooperationspartnern, sondern auch Arbeitgeber oder Krankenhäuser – „jede, der Mitglieder aus der Zielgruppe hat und den Mehrwert nicht selbst anbieten kann“, sagt Hadrossek. „Wir sind auch offen für die Zusammenarbeit mit Apothekenkooperationen und -verbänden!“ Kinderheldin unterstütze auch stationäre Einrichtungen und sehe auch da Potentiale für beide Seiten. Telemedizinische Schwangerschaftsberatung könne auch ein Kundenbindungsinstrument für Apotheken sein: „Da kommen manchmal Fragen, die so spezifisch sind, dass sie kein Apotheker beantworten kann. Man könnte beispielsweise auch in Apotheken Flyer auslegen, auf denen steht ‚Wenn Sie bei einer dieser 53 Krankenkassen versichert sind, können Sie hier kostenlose Hebammenberatung nutzen‘ oder so ähnlich.“ Das sei auch eine Chance für die Apotheken, sich der heutigen Kundenmentalität spezifisch zugeschnittener Versorgung zu nähern. „Der Patient wird immer selbstständiger, fordert immer mehr ein. Darauf müssen wir uns einstellen, denn die alten Geschäftskonzepte von vor 50 Jahren funktionieren auch im Apothekenmarkt nicht mehr.“

 

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