Kein Risiko, kein Arzneimittel Patrick Hollstein, 12.11.2019 08:00 Uhr
Was pharmakologisch wirkt, ist ein Arzneimittel. So hat es der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2012 entschieden. Doch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat jetzt im Zusammenhang mit Ginkgo ein möglicherweise richtungsweisendes Urteil gefällt: Die Einstufung als Arzneimittel ist demnach nur gerechtfertigt, wenn dies zum Schutz der menschlichen Gesundheit tatsächlich erforderlich ist.
Der österreichische Hersteller Gall Pharma will seine Produkte „Ginkgo 100 mg GPH“ und „Ginkgo Biloba + Q-10 GPH“ als Nahrungsergänzungsmittel (NEM) vertreiben. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) lehnte eine entsprechende Erlaubnis ab, weil für Produkte mit einer Dosierung von 100 mg/Tag von einer pharmakologischen Wirkung ausgegangen werden müsse und es sich daher um Arzneimittel handele.
Widerspruch und Klage blieben erfolglos, nach dem Verwaltungsgericht Braunschweig (VG) ging auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (OVG) von einer pharmakologischen Wirkung aus, die nicht zwingend auch eine therapeutische Wirksamkeit des Produktes voraussetze. Entscheidend für die Abgrenzung seien der Nachweis der Ursache-Wirkungs-Beziehung und das Wirkungsmaß.
Daran ist zwar laut BVerwG nichts auszusetzen: Der Nachweis einer therapeutischen Wirksamkeit sei für die Annahme der Arzneimitteleigenschaft eines Produkts nicht erforderlich; diese Anforderung gelte erst für die Zulassung, so die Leipziger Richter. Allerdings habe das OVG es unterlassen, mögliche Gesundheitsrisiken in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen. „Liegen die Auswirkungen eines Produkts auf die physiologischen Funktionen im Grenzbereich zwischen Nahrungsergänzungs- und Arzneimittel, kommt dem Merkmal der Verwendungsrisiken besonderes Gewicht zu. Eine Einstufung als Arzneimittel ist insoweit nur gerechtfertigt, wenn dies zum Schutz der menschlichen Gesundheit erforderlich ist.“
Die Urteilsgründe liegen noch nicht vor; allerdings könnte die Entscheidung zu einer neuen Auslegung durch die Gerichte führen. Denn bislang galt die pharmakologischer Wirkung als klares Kriterium für die Einstufung als Arzneimittel. Jedenfalls mussten keine Sicherheitsrisiken belegt werden.
Der Fall wurde daher an das OVG zurückverwiesen; ob es hier zu einer anderen Entscheidung kommt, bleibt abzuwarten. In einem zivilrechtlichen Verfahren hatte das Oberlandesgericht Hamm bereits 2016 geurteilt, dass Extrakt mit 100 mg Ginkgo eine pharmakologische Wirkung hat. Im konkreten Fall ging es um das NEM „Klosterfrau Ginkgo Plus“. Dem Kölner Hersteller wurde untersagt, das Produkt weiter ohne Zulassung in Verkehr zu bringen und zu bewerben. Der Fall ging nicht zum Bundesgerichtshof (BGH); stattdessen durfte Klosterfrau die Produkte bis Ende 2017 abverkaufen. Vorausgegangen war ein jahrelanger Rechtsstreit mit dem Konkurrenten Schwabe. Unterdessen bietet Queisser weiterhin ein Präparat mit 100 mg Ginkgo-Extrakt an; hier wird vor dem EuGH derzeit über den Sternchenhinweis gestritten.
Zuletzt hatte das VG Köln im Zusammenhang mit einer Venencreme von Abtei entschieden, dass nicht jede pharmakologische Beeinflussung physiologischer Funktionen ein Produkt zum Arzneimittel macht. Gerade bei Stoffen wie Menthol und Campher, die nicht nur in Arzneimitteln, sondern auch als Hilfsstoffe in Kosmetika und im Fall von Menthol darüber hinaus in Lebensmitteln als Geschmacksverbesserer Anwendung finden, müssten für eine tragfähige rechtliche Abgrenzung alle Merkmale des Produkts berücksichtigt werden. „Dazu zählen seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann.“
„Ist nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis davon auszugehen, dass unterhalb einer bestimmten Wirkstoffgabe keine nennenswerte Beeinflussung von Körperfunktionen bewirkt wird, liegt kein Funktionsarzneimittel, sondern ein Kosmetikum vor“, so die Richter.
Ein Indiz sei die Verfügbarkeit anderer Präparate mit ähnlicher oder sogar höherer Dosierung, die als Arzneimittel zugelassen sind: „Die Existenz wirkstoffgleicher zugelassener Arzneimittel mag zwar nicht allein und in jedem Fall zum Beleg der Eigenschaft als Funktionsarzneimittel herangezogen werden“, so die Richter. Allerdings werde bei der Zulassung die Wirksamkeit eines Produkts in der jeweiligen Indikation geprüft. „Ist sie belegt, kann auch von einer (pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen) Wirkung ausgegangen werden.“
Der EuGH hatte im Zusammenhang mit Chlorhexidin – unter Bezug auf die sogenannte „Borderline-Guideline“ der EU-Kommission – entschieden, dass eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen des betreffenden Stoffs und einem Rezeptor ausschlaggebend für die Einstufung ist, die entweder zu einer direkten Wirkung führt oder die Reaktion auf einen anderen Liganden blockiert. Eine Dosis-Wirkungs-Korrelation ist dabei nicht zwingend erforderlich, genauso wie eine Wechselwirkungen mit menschlichen Körperzellen. Erfasst ist auch die Wirkung auf andere im menschlichen Körper befindliche Zellen, etwa von Bakterien, Viren oder Parasiten.