„Die Lieferschwierigkeiten sind auch für uns eine Katastrophe“

Jetzt spricht der Ratiopharm-Chef

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Berlin -

Mit Ratiopharm kämpft einer der führenden OTC-Hersteller mit massiven Lieferengpässen, sogar die Winterbevorratung musste etwa für Paracetamol-Säfte und Kindernasensprays abgesagt werden. Wie es dazu kam, welche Hebel in Ulm gerade in Bewegung gesetzt werden und wann mit einer Entspannung der Situation zu rechnen ist, erklärt Geschäftsführer Andreas Burkhardt.

ADHOC: Ratiopharm kämpft mit Lieferengpässen und muss sogar die Winterbevorratung absagen. Wie konnte es dazu kommen?
BURKHARDT: Als produzierender Betrieb sind wir derzeit mit extremen Herausforderungen konfrontiert. In den vergangenen zwei Jahren gab es massive Schwankungen bei der Nachfrage. So etwas haben wir – genauso der Großhandel und Apotheken – noch nie erlebt. Normalerweise plant man auf der Grundlage des Vorjahresbedarfs, doch solche Erfahrungswerte, auf die man zurückgreifen kann, gibt es pandemiebedingt aktuell einfach nicht mehr.

ADHOC: Das heißt?
BURKHARDT: Im März und April 2020 haben wir die doppelte bis dreifache Menge verkauft, teilweise mussten wir Maßnahmen ergreifen, um die Ware ordentlich zu verteilen. Dann riss die Nachfrage plötzlich ab, die Wintersaison fiel komplett aus. Wir mussten unsere Produktionsprozesse also erneut anpassen und runterfahren, weil die Lager immer voller wurden und wir angesichts von Verfalldaten nur bedingt „auf Halde produzieren“ können. Auch der Großhandel und die Apotheken waren verunsichert und haben nichts mehr nachbestellt, die letzte Winterbevorratung ist quasi ausgefallen. Viele sind mit niedrigen Beständen in die neue Erkältungssaison gegangen, und dann zog die Nachfrage im Herbst plötzlich wieder an. In dieser Situation war es für uns schwierig zu planen, man hatte keine Erfahrung mehr.

ADHOC: Und jetzt hakt es woran?
BURKHARDT: An den Kapazitäten genauso wie am Personal. Früher konnte man auf solche Schwankungen gut reagieren: Bei einer gesunden Auslastung der Produktion von 70 bis 85 Prozent konnte man Spitzen ausgleichen, und auch am Arbeitsmarkt konnte man etwa über Zeitarbeiter schnell reagieren. Jetzt suchen wir händeringend Angestellte für die Produktion, um die Nachfrage zu bedienen. Uns fehlen zwischen 100 und 150 Mitarbeiter. Der Arbeitsmarkt ist überhaupt nicht mehr liquide. Wir haben hier in Ulm, wo wir einen Großteil produzieren, eine Arbeitslosigkeit von gerade einmal 2 Prozent. Die Industrie wartet auf ein ordentliches Einwanderungsgesetz. Es ist enorm schwer, überhaupt noch Personal zu finden. Der Markt ist wie leergefegt.

„Deutlich labilere Lieferketten“

ADHOC: Also sind die Lieferketten nicht das eigentliche Problem?
BURKHARDT: Doch, es gibt eigentlich an allen Ecken und Enden derzeit Probleme. Dort, wo bislang ein robuster Prozess stand, müssen wir heute mit massivem Aufwand nachsteuern. Wir haben deutlich labilere Lieferketten als noch vor einigen Jahren – wenn auch nicht so schlimm wie in der Chipindustrie. Es ist nicht so, dass wir ein Produkt gar nicht erhalten. Aber es ist viel schwieriger geworden, einen nachhaltige Supply Chain hinzubekommen. Das betrifft nicht nur Wirkstoffe, sondern auch Dinge wie Filter oder Reinigungsmittel, über die man sich noch vor Kurzem überhaupt keine Gedanken gemacht hat, weil sie im Überfluss vorhanden waren. Heute müssen wir viel Arbeit in die Beschaffung investieren. Das kleinste Ereignis kann zu einem riesigen Rückstau führen.

ADHOC: Die Winterbevorratung lief ja seit April, wann mussten Sie sich eingestehen, dass Sie nicht liefern können?
BURKHARDT: Das ist ein schleichender Prozess: Sie sehen, dass die Bestellungen hochgehen und ihren Forecast weit übersteigen. Dann sprechen Sie mit der Produktion, die nach Lösungen sucht. Gleichzeitig können Sie zusehen, wie die Lager immer leerer werden. Erst geht man noch davon aus, dass man die Situation zumindest für eine gewisse Zeit überbrücken kann. Aber irgendwann muss man kapitulieren.

„Wir kassieren jetzt Prügel, obwohl wir die Stellung halten“

ADHOC: Welche Rolle spielte denn der Rückzug von 1A Pharma?
BURKHARDT: Auf die Kostensteigerungen der letzten sechs Monate kann man als Hersteller nicht reagieren, die Produktion von Fiebersäften ist faktisch ein Verlustgeschäft. Kein Wunder, dass viele Anbieter ausgestiegen sind. Wir hatten schon vorher einen großen Marktanteil, können aber nicht alles auffangen. Nach 127 Prozent Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr sind wir ausverkauft – und kassieren jetzt Prügel, obwohl wir die Stellung halten.

ADHOC: Wieso priorisieren Sie keine Produkte, bei denen Sie der einzige Anbieter sind?
BURKHARDT: Teva stellt fast 3000 Produkte her. Wir müssen natürlich ausbalancieren und können nicht einfach woanders Leute abziehen. Unsere Mitarbeiter arbeiten schon seit Wochen sechs Tage die Woche, mit Zusatzschichten und Überstunden. Das ist ein harter Job. Wir haben natürlich auch in unseren Niederlassungen etwa in Polen und Kroatien nachgefragt, ob sie uns Personal ausleihen können. Aber die Situation ist derzeit überall schwierig.

ADHOC: Ist der Ausfall ganzer Produkte ein rein deutsches Problem?
BURKHARDT: Es gibt auch in anderen Ländern Engpässe, wenn auch nicht so extrem. Wir fragen natürlich auch in anderen Niederlassungen nach Ware und waren ja auch bei Tamoxifen damit erfolgreich. Aber Deutschland ist ein großer OTC-Markt für Teva, sodass die Situation nicht zu vergleichen ist. Wir können keine Ware umleiten, wenn dadurch ein anderer Markt unterversorgt wird.

ADHOC: Was sagen Sie den Apotheken, die jetzt ihre Kund:innen wegschicken müssen?
BURKHARDT: Dass es uns natürlich leid tut. Die Apotheken sind unsere Partner, es ist unser ureigenes Interesse, sie vernünftig mit Ware zu versorgen.

„Teva ist kein Rosinenpicker wie andere Hersteller“

ADHOC: Ein Vorwurf lautet, dass Sie nur Ihre Marge verbessern wollen…
BURKHARDT: Dass wir eine künstliche Knappheit generieren wollen, ist absoluter Humbug. Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Grund dafür. Der aktuelle Zustand ist für uns ebenfalls extrem ungünstig – Lieferschwierigkeiten sind aus ökonomischer Sicht eine Katastrophe. Wir machen keinen Umsatz, die Maschinen sind nicht ausgelastet und die Apotheken schauen sich woanders um. Unsere Philosophie ist es, eine Säule der Versorgung zu sein und den Markt in seiner Breite zu beliefern: Als Vollversorger haben wir mehrere Produkte im Haus, mit denen wir nicht viel oder gar nichts verdienen. Teva ist kein Rosinenpicker wie andere Hersteller mit Sitz im Ausland.

ADHOC: Also gelten die bisherigen Preise weiter?
BURKHARDT: Die Konditionen aus dem April sind abgesagt. Wir haben jetzt deutlich höhere Einkaufskosten.

ADHOC: Und die vereinbarten Konditionen für die Bevorratung?
BURKHARDT: Wir eruieren gerade, wie wir mit der Mengenstaffel umgehen werden.

„Eine genaue Prognose ist wahnsinnig schwierig“

ADHOC: Wann werden die Produkte wieder lieferfähig sein?
BURKHARDT: Das ist leider noch nicht absehbar. Eine genaue Prognose ist derzeit wahnsinnig schwierig.

ADHOC: Andersherum gefragt: Wird es noch weitere Absagen geben?
BURKHARDT: Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir nicht davon aus. Was bestellt ist, wird Stand heute auch geliefert. Wir wissen aber natürlich nicht, ob uns nicht morgen ein Lieferant plötzlich absagen muss. Die Lieferketten sind weiterhin extrem labil.

ADHOC: Wenn Teva wieder Ware hat, wie werden die Bestände dann kontingentiert?
BURKHARDT: Wir geben derzeit die Aufträge an den Großhandel ab, weil der besser verteilen kann. Sobald wir wieder selbst ausliefern können, werden langjährige Partner zuerst beliefert. Unser Ansinnen ist es natürlich, die Nachfrage komplett bedienen zu können. Für Apotheken bringt es jetzt aber nichts, einen Run zu erzeugen und viele Produkte zu bestellen. Das würde die aktuelle Situation nur verschärfen.

ADHOC: Wird es künftig noch eine Bevorratung geben?
BURKHARDT: Wir überlegen derzeit, wie wir mit der traditionellen Winteraktion umgehen. Es bringt ja nichts, wenn in solchen Zeiten die Auslieferung über Konditionen gesteuert wird oder dadurch, dass jemand ein großes Lager hat.

ADHOC: Was tut Ratiopharm, um solche Zwischenfälle künftig zu vermeiden?
BURKHARDT: Wir stehen im engen Austausch mit den Apotheken und versuchen aufzuklären. Wir arbeiten mit künstlicher Intelligenz, um die Supply Chain zu verbessern. Aber in der Pandemie sind Vorhersagen schwierig. Was wir machen, ist aber nur eine Symptombekämpfung. Die Ursache liegt tiefer. Das Preissystem bestehend aus Fixpreis und Preismoratorium läßt eine kostendeckende Preisgestaltung nicht zu. Die Politik ist bei akuten Engpässen sehr betroffen und teilweise bemüht. An das eigentliche Problem trauen sich die politischen Entscheider aber bislang nicht ran, obwohl die Einschläge näher kommen. Es gibt viele Absichtserklärungen, doch ein konsequentes Handeln fehlt. Ein Engpass bei Fiebersaft für Kinder ist schlimm. Aber es gibt Medikamente, wie beispielsweise Tamoxifen, bei denen ein Abriss für die Patienten lebensgefährlich wird.

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