Merck & Co. muss dem japanischen Pharmaunternehmen Shionogi 4 Prozent des Umsatzes mit Isentress (Raltegravir) für die 13-monatige Nutzung des Wirkstoffpatents zahlen. Das hatte das Bundespatentgericht bereits im November entschieden, jetzt legte der Senat seine Begründung vor. Dem US-Konzern kam zugute, dass das Patent des Konkurrenten nur Ansätze des Wirkstoffs umfasste.
Das Gericht musste über die Höhe der Lizenzgebühr für den Zeitraum September 2016 bis Oktober 2017 entscheiden. Nach Ansicht von Merck dürfte diese maximal 1,1 Prozent der Nettoumsätze mit Isentress betragen. Shionogi hingegen forderte mindestens 8 Prozent vom Umsatz. Bei der Entscheidung orientierte sich der Senat daran, was in einem fiktiven Lizenzvertrag zwischen den beiden Firmen vereinbart würde. Dabei wurden die im Produktbereich üblichen Lizenzgebühren zugrunde gelegt. Das Gericht ging dabei zunächst „von einem außerordentlich hohen Lizenzsatz für ein Wirkstoffpatent im Bereich von 10 Prozent bis 15 Prozent“ aus. Diese Zahl kam hauptsächlich aufgrund der hohen Umsätze zustande, die Merck mit Isentress eingefahren hatte, sowie dem „Drohpotential“ von Shionogis Patent.
Die Japaner hätten die Chance gehabt, ihren Konkurrenten vom Markt zu drängen und die eigenen Produkte zu platzieren. „Ein wirtschaftlich vernünftiger Patentinhaber würde in dieser Situation also nur dann eine Lizenz an seinen Konkurrenten vergeben und damit den Verbleib des Konkurrenzprodukts auf dem Markt ermöglichen, wenn er den entgangenen Zuwachs beim eigenen Produkt mindestens kompensieren könnte“, so die Richter.
Verstärkt werde diese Bedrohung noch dadurch, dass Patienten beim Verschwinden von Isentress vom Markt auf andere Therapien ausweichen würden und bei erfolgreicher Umstellung vielleicht nicht wieder zu Isentress zurückkehren würden. Außerdem habe Merck keine Alternative, mit der man einen drohenden Vertriebsstopp von Isentress kompensieren könnte. Die erzwungenen Unterstützung eines Konkurrenzunternehmens sowie die fortlaufende Angreifbarkeit des Patents sprächen ebenfalls dafür, eine hohe Gebühr zu veranschlagen.
Erheblich wertmindernd wirke sich hingegen die Bedeutung des Patents aus. Daraus gehe nur ein erster Ansatz des α-Hydroxy-α,β-ene-keto-Strukturelement aufweisenden Pyrimidin-6-on-5-hydroxy-Rests hervor. Zwar werde der Wirkstoff Raltegravir von den Patentansprüchen erfasst, jedoch gingen aus dem umstrittenen Patent weder Raltegravir selbst noch andere relevante Einzelverbindungen hervor. Den Anteil des Patents an der Gesamtentwicklungsleitung bezifferte das Gericht mit etwa einem Zehntel.
Von Merck müsse nach Erhalt des Patents theoretisch noch erhebliche Weiterentwicklung geleistet werden. Dass der Konzern den Wirkstoff bereits vollständig selbst entwickelt habe, spiele keine Rolle. Wertmindernd wirke sich hingegen aus, dass Merck sein eigenes Raltegravir-Patent mitnutzen müsse, um den Wirkstoff überhaupt im durch die Zwangslizenz gewährten Rahmen nutzen zu können. „Da dieses Patent im Gegensatz zum Streitpatent nicht einspruchsbehaftet ist, hat es während der Laufzeit der Zwangslizenz den patentrechtlichen Schutz des Lizenzgegenstands für beide Parteien erhöht“, befanden die Richter.
Der Umfang der Zwangslizenz ist nach Ansicht der Richter ebenfalls ein Grund zur Wertminderung. Zwar handele es sich faktisch um eine exklusive Lizenz, da es keine anderen Mitbewerber auf dem Markt gebe, doch Shoinogi habe das Recht behalten, weitere Lizenzen zu vergeben.
Shionogi und Merck forschten parallel an Medikamenten mit einer Gruppe von Stoffen, die die Vermehrung des HI-Virus im Körper entgegenwirken. Dazu gehört der heute als Raltegravir bekannte Wirkstoff. Shionogi meldete als erstes im August 2002 ein europäisches Patent an, im Oktober folgte eine italienische Tochter von Merck. Das Patent für Merck wurde 2006 erteilt, das für Shionogi erst 2012.
Im Jahr 2007 erhielt Merck eine Zulassung für Isentress in den USA, seit 2008 wird das Medikament in Deutschland angeboten. Shionogi wollte das 2015 mit einer Klage vor dem Landgericht Düsseldorf unterbinden, da sich das Unternehmen in seinen Patentrechten verletzt sah. Merck wiederum ging gegen das Patent der Japaner vor.
In einem Eilverfahren erlaubte das Bundespatentgericht Merck 2016 vorläufig, Isentress weiter zu vertreiben, weil etwa Schwangere, Neugeborene und Neuinfizierte das Medikament dringend bräuchten. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte die sehr seltene Zwangslizenz ein Jahr später. Es liege im öffentlichen Interesse, dass der US-Konzern das Medikament weiter verkaufen könne, weil Shionogi es selbst nicht auf dem Markt anbiete, sagte der Vorsitzende Richter Peter Meier-Beck bei der Urteilsverkündung. Alternative Mittel seien mit Risiken verbunden, die nicht für alle Patienten hinnehmbar erschienen.
Merck habe sich vor dem Gerichtsverfahren ausreichend darum bemüht, mit den Japanern eine Lizenz auszuhandeln, so der Patentsenat. Auch dies ist Voraussetzung für eine Zwangslizenz. Die Gespräche seien erfolglos verlaufen, weil die Vorstellungen der Parteien über die Höhe der Lizenzgebühr so weit auseinander lagen. Grund sei der ungewisse Ausgang des parallel laufenden Patentstreits.
Die Japaner forderten in einem ersten Angebot 3 bis 10 Prozent des Umsatzes. Nach der erstinstanzlichen Aufrechterhaltung ihres Patents hoben sie den Preis an: Zwischen 5 bis 12,5 Prozent sollten die Amerikaner nun abgeben, darunter 7,5 Prozent für Umsätze in der EU. Merck bot eine vergleichsweise niedrige Einmalsumme von 10 Millionen US-Dollar.
Nachdem Shionogis Patent im Oktober 2017 vom Europäischen Patentamt widerrufen wurde, konnte das Bundespatentamt eine Lizenzgebühr festlegen. Bei Merck hatte man gehofft, mit dem Widerruf des Patents sei der Rechtsstreit erledigt und die Nutzungsgebühr rückwirkend hinfällig. Der dritte Senat sah dies allerdings anders: Der Konzern habe 13 Monate von der Zwangslizenz Gebrauch gemacht, also müsse er für diesen Zeitraum auch die gesetzlich bestimmte Vergütung entrichten.
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