Wenn es um die aktuellen Umstrukturierungen der Anzag geht, achtet Konzernchef Dr. Thomas Trümper penibel auf die Zwischentöne. Auf keinen Fall soll der Eindruck entstehen, dass man in Frankfurt nur noch Befehlsempfänger ist und dass die Entscheidungen beim neuen Mehrheitseigentümer Alliance Boots in London getroffen werden. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen: Das deutsche Management darf den europäischen Ansatz mitgestalten, muss aber die Konzernlinie umsetzen. Und die könnte die Anzag nachhaltig verändern.
Seit Ende 2010 ist Alliance Boots bei der Anzag Herr im Haus. Firmenchef Stefano Pessina und seine Großhandelschefin Ornella Barra haben eine klare Vision, wie der Konzern in ein paar Jahren aussehen soll. Die Zeit drängt, denn schon bald steht die Refinanzierung an: Darlehen über acht Milliarden Britische Pfund werden zwischen 2014 und 2017 fällig. Und auch die stillen Gesellschafter wie die Strüngmann-Brüder werden irgendwann Bares sehen wollen.
Pessina und seine Finanzpartner von KKR müssen den europäischen Marktführer auf eine Linie bringen, denn für einen Börsengang kommt ein Sammelsurium an Einzelfirmen nicht in Frage. „Zunächst müssen wir uns konsolidieren“, hatte Pessina schon 2010 im Interview mit APOTHEKE ADHOC erklärt.
Seitdem sind permanent Arbeitsgruppen zwischen Frankfurt und London unterwegs. Bei Alliance Boots werden strategische Entscheidungen nicht in den einzelnen Landesgesellschaften getroffen, sondern in verschiedenen Gremien auf Konzernebene: Zwischen den Geschäftsbereichen und dem Vorstand gibt es dazu etwa das sogenannte Operating Committee, dem neben den Divisionsleitern auch Länderchefs wie Trümper angehören.
Matrix- statt Säulenstruktur, heißt die Devise. Minimaler Wasserkopf, maximaler Austausch. Dieser Boots-Philosophie sind bei der Anzag kürzlich die Vorstandsposten Marketing/Vertrieb und Betrieb sowie weitere zentrale Positionen im Management zum Opfer gefallen – auch wenn Trümper Wert auf die Feststellung legt, dies habe nichts mit dem Eigentümerwechsel zu tun.
In den internationalen Workshops dürften Ideen geboren werden wie der Ausbau des europaweiten Servicegeschäfts zwischen Pharmafirmen und Apotheken. Unter dem Namen „Skills in healthcare“ sollen die Großhändler im Alliance-Verbund beispielsweise ihr Angebot für die Industrie deutlich ausweiten: Von der Markteinführung bis zur Platzierung in der Frei- oder Sichtwahl will der Konzern Hilfestellung geben.
Verantwortlich für den Geschäftsbereich ist bei der Anzag Jürgen Klapper, der zwar erst einmal nicht in den Vorstand, aber als einer von vier Managern in die sogenannte erweiterte Geschäftsleitung berufen wird. Der gewünschte Strauß von Dienstleistungen wird derzeit bei den potenziellen Kunden abgefragt.
Insoweit ist bei „Skills in healthcare“ eine Handschrift aus London erkennbar. Dort hat man deutlich weniger Vorbehalte, vom Kunden der Hersteller zu deren Dienstleister zu werden: Bedürfnisse der Industrie erkennen, Antworten liefern, Marktführer werden, so sieht es Pessina. Unter seiner Ägide hat sich der britische Großhandelsmarkt so verändert, dass er den Namen eigentlich gar nicht mehr verdient.
Trümper dagegen verstand sich immer durch und durch als vollversorgender Großhändler, der Ware auf eigene Rechnung kauft und weiterkauft. Konsignationslager, wie sie die Kollegen in England eingerichtet haben, hätte es mit der „alten“ Anzag nicht gegeben – von Ausnahmen einmal abgesehen. Als vor drei Jahren die ersten Mitbewerber umzufallen drohten, setzte Trümper als Phagro-Chef jedenfalls den gesetzlichen Belieferungsanspruch durch.
Spricht man ihn heute auf seine „Berufsehre“ an, dann räumt der Anzag-Chef ein, dass sich die Branche im Umbruch befindet und dass man Erträge im Randgeschäft suchen muss. Wobei dieser Begriff relativ ist. „Skills in healthcare“ soll in Dimensionen vorstoßen, die utopisch anmuten: 30 Prozent des Umsatzes soll der Bereich irgendwann liefern.
Das ist auf der Grundlage heutiger Zahlen ein Milliardenbetrag und erfordert eigentlich auch ein völlig neues unternehmerisches Konzept und neue Vertriebsstrukturen. Denn im Dienstleistungsbereich werden keine klassischen Umsätze gefahren, sondern Gebühren abgerechnet.
Auch wenn man die Produkte aus London mitrechnet – nach No.7-Kosmetik sollen im März Thermometer, Blutdruckmessgeräte und Schwangerschaftstests der Boots-Eigenmarke Alvita in deutsche Apotheken kommen –, muss sich die Anzag ordentlich strecken, um die ausgegebenen Ziele zu erreichen. Bei Celesio kursierten vor ein paar Jahren noch ähnliche Zahlen; mittlerweile hat man sich von den Gedankenspielen verabschiedet, in die sich Ex-Konzernchef Dr. Fritz Oesterle einst verstiegen hatte.
Doch der Anzag ist es anscheinend ernst: Von den vormals 90 Apotheken-Außendienstlern ist zum Jahreswechsel knapp ein Dutzend in den neuen Geschäftsbereich gewechselt. Und im Großhandel wird gespart, was im Dienstleistungsbereich investiert werden soll: Die telefonische Betreuung der Apotheken soll an 12 der 25 Anzag-Niederlassungen gebündelt werden; die Mitarbeiter können mit umziehen oder bis Ende Juni gegen eine Abfindung ausscheiden.
Spätestens ab August 2013 dürften Interessenkonflikte – so es je welche gegeben hat – der Vergangenheit angehören: Wie die Financial Times Deutschland kürzlich unter Berufung auf Unternehmenskreise berichtete, soll dann ausgerechnet Finanzvorstand Dr. Ralf Lieb Nachfolger von Trümper werden.
Lieb ist erst vor zwei Jahren zur Anzag gekommen und als Herr der Zahlen ansonsten nicht sonderlich mit der Branche verbandelt. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Umstellung des Geschäftsjahres auf das von Alliance Boots; heute gilt er als direkter Ansprechpartner für Barra und deren Kollegen aus England – nicht nur was die Anzag angeht, sondern auch in Bezug auf den ansonsten vom Frankfurter Großhändler unabhängigen Onkologika-Spezialisten Megapharm.
Zur Stimmungslage passt eine Geschichte, die laut Trümper zwar frei erfunden ist, die aber eine Zeitlang in den Fluren in Frankfurt hinter vorgehaltener Hand weitererzählt wurde: Nach der Mehrheitsübernahme soll Barra morgens um sechs unangemeldet in Frankfurt aufgetaucht sein. Als die Anzag-Spitze am späteren Vormittag anrückte, hatte das Integrationsteam aus Großbritannien die Vorstandsetage längst in Beschlag genommen. Seitdem sollen die Verhältnisse zwischen London und Frankfurt geklärt sein.
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