Magen-Darm-Mittel

Iberogast erntet MCP-Umsätze Patrick Hollstein, 29.04.2015 11:35 Uhr

Berlin - 

Der Rückruf von MCP-Tropfen vor einem Jahr hat das pflanzliche Magenmittel Iberogast beflügelt: Zeitweise legten die Abverkäufe um 22 Prozent zu – auch über das Gesamtjahr gab es ein beachtliches Plus. Ein besseres Geschenk hätten die Behörden dem Produkt zum 55-jährigen Jubiläum nicht machen können. Doch auch über dem Top-Seller hängt ein Damoklesschwert.

Im April 2014 hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Zulassung für alle MCP-Tropfen mit einer Konzentration von mehr als 1 mg/ml widerrufen. Hintergrund waren schwerwiegende neurologische und kardiovaskuläre Nebenwirkungen. Obwohl die Sicherheitsbedenken der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) seit Monaten bekannt waren, wurde die Branche von dem Bescheid überrascht.

Bei Steigerwald reagierte man schnell. Weil kurz zuvor auch noch der Einsatz von Antiemetika mit dem Wirkstoff Domperidon eingeschränkt worden war, sahen Geschäftsführer Christian Sarto, Marketing- und Vertriebschef Jens Gruske sowie Produktmanager Frank Stoppel gute Chancen, die Lücke mit Iberogast ausfüllen zu können. Die Werbeausgaben wurden nach Nielsen-Zahlen um ein Viertel auf knapp 6 Millionen Euro zu Bruttopreisen erhöht. Vor allem in Publikumszeitschriften waren regelmäßig Anzeigen für das Produkt zu finden.

Der Einsatz wurde belohnt: Auf das Gesamtjahr betrachtet, sprangen die Erlöse laut Insight Health um 17 Prozent auf 94 Millionen Euro auf Basis der Apothekenverkaufspreise (AVP). Statt 6,8 wurden 8,2 Millionen Packungen abgegeben, bei einem Versandhandelsanteil von 13 Prozent. Der Erfolg war so groß, dass sich Steigerwald im März eine Preiserhöhung genehmigte, bei den Großpackungen die zweite innerhalb von zwölf Monaten.

Allerdings erreichte Steigerwald nur ein Teil der Patienten, die bislang MCP oder Domperidon verwendet hatten: Laut Arzneiverordnungsreport wurden 2013 rund 5,7 Millionen MCP-Packungen im Wert von 57 Millionen Euro alleine auf Kassenrezept verordnet; dazu kamen laut IMS Health knapp 200.000 Packungen für Selbstzahler. Der Löwenanteil von mehr als 80 Prozent entfiel auf die Tropfen, für die es bis heute keinen Ersatz gibt. Domperidon-haltige Präparate gingen 2013 rund 700.000 Mal über den HV-Tisch.

Bei der Bewerbung setzte der Hersteller auf die gute Datenlage: Eine Vergleichsstudie mit MCP hatte Steigerwald bereits 2007 durchführen lassen, auch sonst lagen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen vor. Wirksamkeit und Sicherheit der Kombination aus bitterer Schleifenblume, Schöllkraut, Kamillenblüten, Kümmel- und Mariendistelfrüchten, Melissen -und Pfefferminzblättern sowie Angelika- und Süßholzwurzel seien an mehr als 50.000 Patienten untersucht worden, hieß es.

Was der Hersteller nicht erwähnte: Die Verwendung von Schöllkraut ist in der Fachwelt nicht unumstritten. 2005 hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein Stufenplanverfahren eingeleitet. Aus Sicht der Behörde ist der Nutzen von Schöllkraut nicht belegt, während gleichzeitig Hinweise für ein erhebliches gesundheitliches Risiko aufgrund von Leberschäden vorliegen.

Auslöser waren 48 Fälle hepatotoxischer Reaktionen bis hin zu Hepatitiden, zum Teil mit Cholestase, arzneimittelbedingtem Ikterus, Leberzellschädigung und Leberversagen. Insgesamt wiesen 40 Fälle ikterische Verläufe auf. Aus Sicht der Behörde waren 40 Spontanmeldungen hinreichend dokumentiert; bei 16 war laut BfArM ein Kausalzusammenhang wahrscheinlich, bei 26 immerhin möglich.

Ursprünglich hatte man in Bonn Schöllkraut daher komplett verbieten wollen. 2008 widerrief die Behörde die Zulassung für alle Präparate mit mehr als 2,5 Milligramm Gesamtalkaloide. Hersteller von Präparaten mit geringerer Dosierung wurden per Bescheid verpflichtet, Leberschäden als Risiko in die Fachinformation – Nebenwirkungen, Vorsichtsmaßnahmen, Gegenanzeigen – aufzunehmen und die Anwendung auf vier Wochen zu beschränken. Während Schwangerschaft und Stillzeit sollten die Produkte kontraindiziert sein.

Zu Iberogast gab es seinerzeit keine Hinweise auf eine leberschädigende Wirkung. Für Steigerwald wären entsprechende Warnhinweise und Anwendungseinschränkungen trotzdem eine Katastrophe. Zum Vergleich: Bei Umckaloabo hatten 30 Spontanmeldungen zu möglichen Leberschäden ausgereicht, um das Produkt zu beschädigen und die Umsätze nachhaltig auf Talfahrt zu schicken.

Aus gutem Grund hatte Steigerwald, neben zehn weiteren Herstellern, gegen den BfArM-Bescheid Widerspruch eingelegt. Als eines von insgesamt vier Verfahren ist der Fall nach wie vor anhängig. Ob und wann der Streit vor Gericht geht, ist derzeit nicht abzusehen. Einstweilen wird das Produkt ohne entsprechende Änderung der Gebrauchsanweisung weiter vertrieben.

Kritik dafür kam unlängst vom Arznei-Telegramm: Über das Netzwerk war ein Verdachtsfall eingegangen, bei dem eine Frau schon zwei Wochen nach der einmaligen Einnahme von Iberogast eine Hepatitis mit Zellnekrose entwickelt hatte. Da andere mögliche Ursachen ausgeschlossen werden konnten, rieten die Autoren von der Einnahme ab.

Für den Fall der Fälle ist man in Darmstadt bereits vorbereitet: Als Alternativen könnten zeitnah Varianten ohne Schöllkraut, Mariendistelfrüchten und Angelikawurzel beziehungsweise nur mit Kamillenblüten, Kümmel und Pfefferminzblättern auf den Markt kommen. Entsprechende Zulassungen hat der Hersteller seit Jahren in der Tasche.