Hippo AI: „Fridays For Future“ im Gesundheitswesen Tobias Lau, 09.09.2021 08:01 Uhr
Wissenschaft und medizinischer Fortschritt waren schon immer mit der sozialen Frage verknüpft, von der Forschung über die Entwicklung bis zur anschließenden Therapie. Doch so wie die Digitalisierung Wertschöpfungsketten und Wirtschaftsstrukturen durcheinanderwirbelt, führt der datengetriebene Kapitalismus auch zu gänzlich neuen Konsolidierungsprozessen, die schon in naher Zukunft uns alle angehen werden: Denn Wissen wird zusehends privatisiert und konzentriert sich in den Händen weniger Oligarchen. Der ehemalige IBM-Manager Bart de Witte hat diesen Asymmetrien mit seiner Hippo AI Foundation den Kampf angesagt – und dafür gemeinsam mit Viktoria Prantauer gleich zwei VISION.A Awards abgestaubt.
Die Digitalisierung ist ein wenig wie der Klimawandel: Experten können bereits relativ genau vorhersagen, auf welche Zustände wir zusteuern – einzig der Zeithorizont erschwert es vielen Menschen, die Tragweite der Ereignisse zu begreifen und entsprechend zu handeln. So ähnlich sieht Bart de Witte auch die Ausgangslage: „Wir sind ein bisschen wie Fridays For Future: Wir wollen ein Problem lösen, das erst in ein paar Jahren akut sein wird. Aber es ist oft schwierig, gegen ein Problem in der Zukunft zu kämpfen, weil das heute erst wenige hören wollen.“ Aber es ist ihm ernst: 2019 schmiss er nach fast neun Jahren beim IT-Konzern IBM hin – zuletzt war er Director Digital Health für die DACH-Region – und gründete die Hippo AI Foundation.
Zur selben Zeit musste Viktoria Prantauer anderswo einen der schwersten Momente ihres Lebens durchstehen: Sie erhielt die Diagnose Brustkrebs. Und wie bei den meisten Menschen folgte auf die Phase der initialen Angst die des Nachdenkens. „Ich habe in der Nacht der Diagnose gewusst, dass ich sie nutzen will, um daraus etwas positives für die Menschen zu machen“, sagt die ehemalige PR-Managerin. Sie fing an sich zu informieren und stieß auf die Pläne de Wittes. Vier Tage nach der Diagnose nahm sie Kontakt zu ihm auf. Prantauer wurde ehrenamtliche Botschafterin der ersten Kampagne der Hippo AI Foundation, die gleich ihren Namen trug: Viktoria 1.0. Ziel ist es, möglichst viele Menschen dazu zu bewegen, die Initiative zu unterstützen. Denn in der Brustkrebsdiagnostik gibt es nach wie vor keine umfassenden und global offenen Datensätze, die die Weltbevölkerung repräsentieren, und mit denen Künstliche Intelligenzen (KI) trainieret werden können, die die Diagnose verbessern – genau darin liegt jedoch die Zukunft. „Ich möchte, dass jeder Mensch mit Hilfe von offener KI den Zugang zu einer schnellen und akkuraten Diagnose bekommt“, sagt Prantauer.
Doch Daten sind als Rohmaterial für Maschinelles Lernen zur begehrtesten Handelsware überhaupt geworden – und das gilt im Gesundheitswesen genauso wie im E-Commerce. So wie bei sozialen Medien, Suchmaschinen oder Handelsplattformen ist die Konzentration und Bildung von Oligopolen auch im Gesundheitswesen eine bereits erkennbare Tendenz. Die Daten-Akkumulation ahmt die Kapitalakkumulation nach. Aber anders als Geld sind Daten nicht nur reines Kapital, sondern konkretes Wissen. „Man kann die Entwicklung heute schon sehen: Corporations wie Google kaufen Daten bei europäischen Krankenhäusern ein und sichern sich exklusive Nutzungsrechte. Dasselbe findet auch in der Pharmaforschung statt, wo akademische Häuser den Datenzugang über Drittmittelverträge an Unternehmen verkaufen“, erklärt de Witte. „Das führt dazu, dass die öffentliche Forschung keinen Zugang mehr zu diesen Daten erhält und damit ihr Auftrag, öffentliches Wissen zu generieren, unterlaufen wird. Damit führt die Datenkapitalisierung zu einer Wissensprivatisierung. Aus diesen Wissensasymmetrien werden dann Machtasymmetrien. Es ist Inequality by Design.“
Diese Machtasymmetrien ließen sich heute bereits in anderen Bereichen beobachten: Wenn beispielsweise soziale Netzwerke – also privatwirtschaftliche Unternehmen – über öffentliche Moral entscheiden und ihre Entscheidungen global umsetzen können. Das können dann fragwürdige Entscheidungen sein wie die von Twitter, den Account von Donald Trump zu sperren, oder die berüchtigte Policy von Facebook, Hatespeech und Gewaltdarstellungen zu tolerieren, aber bei vermeintlich sexuellem Content – symbolisch dafür steht der Streit um den Bann von Brustwarzen – gemäß prüder amerikanischer Moralvorstellungen zu handeln. Diese Entscheidungen sind dann weltweit gültig, denn auf Facebook gibt es keine Landesgrenzen. Das mag nach banalen Beispielen klingen, aber de Witte ist sich sicher, dass derselbe Mechanismus schon in naher Zukunft auch im Gesundheitswesen Einzug halten wird, wenn nicht frühzeitig entgegengesteuert wird.
„Das Wertesystem im Gesundheitswesen ist in den USA deutlich anders als in Europa. Es reicht, sich den Streit um die Insulin-Preise anzuschauen“, sagt er. In den USA, wo auch das Gesundheitswesen größtenteils den Regeln des freien Marktes folgt, hat sich in den vergangenen Jahren immer stärker gezeigt, dass diese Regeln eben nicht automatisch den Menschen helfen: Die Insulinpreise sind in den letzten Jahren massiv gestiegen, mit der Folge, dass eine notwendige Monatsdosis ohne Versicherung schnell über 1000 US-Dollar kosten kann und selbst mit Versicherung auf mehrere hundert Dollar im Monat steigen kann. Die Folge sind immer mehr Menschen, vor allem aus ärmeren Bevölkerungsschichten, denen ihr Diabetes die wirtschaftliche Grundlage entzieht. Die Berichte von Diabetespatienten, die sterben, weil sie sich ihr Insulin nicht mehr leisten konnten, nehmen stetig zu. Das Open Insulin Project will dem entgegensteuern und nach dem Open-Source-Prinzip den Weg für eine erschwingliche Insulinproduktion abseits der großen Hersteller etablieren.
Nach diesem Prinzip will de Witte auch im ungleich größeren Feld der digitalen Gesundheitsdaten verfahren. „Man spricht von einer Blackbox in der KI-Forschung, weil der Entscheidungsweg vieler Künstlicher Intelligenzen technisch bereits nicht mehr nachvollziehbar ist. Seit Kurzem kann man auch von einer Legal Blackbox sprechen: Tech-Unternehmen schützen ihre Algorithmen, die beispielsweise bei der Ausspielung von Werbung zum Einsatz kommen“, sagt de Witte. „Wenn das in der Medizin stattfindet, und das wird es mit Sicherheit, dann werden wir eine andere Wissenschaft erleben, die nicht mehr der öffentlichen Wissensmehrung dient. Das wird zu noch mehr Ungleichheit in unseren Gesellschaften führen, denn wenn Daten einen ökonomischen Wert haben, sind es natürlich die Organisationen mit dem besten Zugang zu Kapital, die darauf zugreifen können.“
Aus diesem Grund halte er auch nichts von der Idee, dass Menschen ihre Gesundheitsdaten an Unternehmen verkaufen können, wie es bereits praktiziert wird. Daten seien vielmehr gemeinnützige Güter, was er erneut an einem Beispiel verdeutlicht: So wie Nahrungsmittelkonzerne Grundwasser abpumpen, um den Menschen ein eigentlich frei zugängliches Gut zu verkaufen, passiere das auch mit Gesundheitsdaten. „Das sind unsere Daten, über die eigentlich wir entscheiden können. Was aber passiert, ist, dass sie privatisiert werden.“ Ähnlich sehe es mit dem Konzept der Datenspenden aus. „Als Patient Daten an große Pharmaunternehmen zu spenden, ist, als ob man der Deutschen Bank Geld spendet. Die Bürger sollen ihre Daten geben, aber die Unternehmen behalten sie dann für sich.“
Die Hippo AI Foundation hat es sich deshalb zur Mission gemacht, Datenpools aufzubauen, die allen Akteuren einen Zugang für Forschung und Entwicklung ermöglichen – nicht nur den großen Corporations. „Wir wollen eine Welt, in der auch mittelständische Unternehmen eine Chance haben. Das ist Europa, und nicht diese monopolistischen Strukturen“, so de Witte. „Dazu müssen wir aber dafür sorgen, dass die Bausteine, die man braucht, um Tools zu bauen, als Open Source zur Verfügung stehen. Denn ohne Open Source gibt es kein Start-up-Ökosystem. Ich will, dass Studenten in zehn Jahren noch selbst Start-ups gründen können, ohne dass sie sich an eine Google-API anschließen müssen.“ Denn auch wenn der Zugang durch solche Konstrukte möglich werde: Die wahre Wertschöpfung findet dann nicht in Europa, Afrika oder Asien statt, sondern im Silicon Valley. Auch dafür gibt es bereits einen Fachbegriff: Data Colonialism.
Doch die Daten müssen von irgendwoher zu Hippo AI gelangen. Hier kommt Prantauer wieder ins Spiel: Mit patientengetriebenen Kampagnen wie Viktoria 1.0 sollen andere mobilisiert werden, es ihr gleichzutun und ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung stellen. „Was Bart und ich umsetzen wollen, ist eine Demokratisierung von Technologie und in deren Zentrum müssen die Menschen stehen, also in unserem Fall die Patienten“, sagt sie. Am Anfang konzentrieren sie sich dabei noch nicht auf individuelle Datenspenden, sondern arbeiten mit privaten Krankenhäusern und Forschungseinrichtungen zusammen, um Datenspenden aus allen Teilen der Welt einzusammeln. Ziel ist im Fall von Viktora 1.0, Daten für KI-Anwendungen in der Brustkrebsdiagnose und -behandlung frei verfügbar zu machen. „So wie Bart mich als Patientin empowered hat, möchten wir die Menschen lokal empowern, eigene Lösungen zu entwickeln“, sagt sie. Um das unabhängig von staatlichen oder privatwirtschaftlichen Strukturen zu tun, sind sie dazu neben Daten- allerdings weiterhin auch auf finanzielle Spenden angewiesen. Denn das Vorhaben ist höchst ambitioniert: „Wir bauen große Datenpools auf, die wie Open Source von einer Community genutzt werden können und aus denen dann Open-Source-Algorithmen entwickelt werden können“, erklärt de Witte. „Das führt zu einer neuen Welt, in der wir unser Wissen endlich wieder teilen können.“