Telemedizin ohne „akademische Sklavenarbeit“

Gemeinsame Videokonferenz: Arzt, Patient und Apotheker

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Berlin -

Allzu viele Hoffnungen verbinden die meisten Apotheker mit der Telemedizin bekanntlich nicht – höchstens die, dass sie die Kommunikation mit anderen Leistungserbringern verbessert. Die Deutsche Arzt AG (DAAG) setzt dort an: In sogenannten Multikonferenzen sollen Apotheker, Ärzte und Patienten künftig unkompliziert und gemeinsam die Medikation koordinieren können. Doch das Portfolio der DAAG ist bedeutend umfangreicher: Anders als die landläufig bekannten Telemedizin-Anbieter ist sie bisher eher unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung geblieben. Dabei zählt sie mittlerweile zu den größten Anbietern. Aber statt auf Investoren- und Endkundenansprache setzt sie aber auf ihr Netzwerk innerhalb des Gesundheitswesens: Die Patienten will sie über die Ärzte erreichen, nicht umgekehrt. „Die meisten Anbieter sehen es von der technologischen Seite, aber wir denken von der Seite der Finanzierungsströme“, sagt Vorstandschef Jochen Roeser. „Man kann nämlich nur erfolgreich sein, wenn man Lösungen hat, die die GKV erstattet.“

Der Markt für Telemedizin ist weiter in Bewegung und zieht viele Unternehmer an, die ein lukratives Geschäftsmodell wittern. Das technische Know-how bringen die zweifelhaft mit. Doch das reicht nicht, findet Roeser: „Die wichtigste Voraussetzung ist die feste Verankerung im Gesundheitssystem“, sagt er. „Das muss man verstehen, sonst baut man Systeme am Ökosystem der Kassen vorbei.“ Von dort aus hat Roeser in den zurückliegenden Monaten sein eigenes Telemedizin-Angebot aufgebaut – und zwar unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung.

Denn in der Öffentlichkeit sind andere die großen Player: Zava, Teleclinic und Kry beispielsweise. Für die ist die Sars-CoV-2-Pandemie eine große Chance, ihre Nutzerzahlen in die Höhe zu treiben. Das haben sie nicht zuletzt damit befördert, Leistungserbringern und Patienten Angebote zur freien Verfügung zu stellen. Das hat auch die DAAG getan, allerdings ohne dafür zu trommeln. „Wir waren der erste Anbieter, der seine Lösung in der Coronakrise kostenlos zur Verfügung gestellt hat“, beteuert Roeser. „Wir haben das aber anders als andere nicht an die große Glocke gehängt. Wir wollen nicht mit Beiträgen im Handelsblatt erfolgreich werden, sondern über unser Netzwerk und unsere Verankerung im Gesundheitswesen.“

Aus dem kommt die DAAG: 2015 wurde sie im Umfeld der Novotergum-Gruppe gegründet, einem der größten Physiotherapieunternehmen in Deutschland. Ihr Kernangebot sind digitale Dienstleistungen, von individuellen Websites über Marketingunterstützung und Schulungsangebote bis zum betrieblichen Gesundheitsmanagement und innovativen Versorgungsverträgen mit Krankenkassen. Neues Lieblingskind im Portfolio ist aber die Online-Sprechstunde. Dabei ging die DAAG aber bisher eher nach der Devise vor, langsam und nachhaltig zu wachsen, statt sich mit einem großen Aufschlag berühmt zu machen. „Deshalb haben wir uns in der Vergangenheit zurückgehalten und gesagt, wir machen das erstmal aus dem System heraus.“ Doch dann kam die Coronakrise.

„Wir hätten auch nicht erwartet, dass sich in so kurzer Zeit so viel bewegt“, erklärt Roesler. „Covid-19 hat die Realisierung um drei bis fünf Jahre komprimiert.“ Wenig überraschend hat dabei vor allem der kostenlose Zugang zum Videosprechstundenportal die Nutzerzahlen explodieren lassen. Ende Februar habe die DAAG 250 registrierte Ärzte auf ihrer Seite gehabt. „Dafür haben wir zweieinhalb Jahre Entwicklung gebraucht.“ Mittlerweile liege die Zahl bei rund 13.000 Medizinern und Heilmittelerbringern und rund einer Million Videominuten pro Woche. KBV-zertifiziert sind sie, die Ärzte sowieso – die Leistungen sind also alle bereits erstattungsfähig. „Wir haben uns in kürzester Zeit zum Hidden Champion entwickelt“, sagt Roeser. „Deshalb wollen wir jetzt einen Schritt an die Öffentlichkeit machen.“

Bei den registrierten Ärzten und Heilpraktikern handelt es sich ausschließlich um Niedergelassene. Ist die kostenfreie Phase vorbei, müssen die Kunden zahlen, wenn sie bleiben wollen: 10 Euro kostet das Grundpaket monatlich, 40 Euro das Gesamtpaket. Dazwischen sei jedoch viel möglich, es können nämlich auch individuelle Angebote gebucht werden. Vom Konzept der vertraglich gebundenen oder gar angestellten Tele-Ärzte hält Roeser hingegen nichts. „Wir sagen auch ganz klar, wo wir uns nicht positionieren: Wir wollen keine Callcenter machen. Das führt irgendwann zu akademischer Sklavenarbeit!“

Stattdessen müsse die Telemedizin genutzt werden, um das Gesundheitswesen selbst zu stärken, nicht neue Anbieter mit dem Kapital Dritter im Rücken. „Wir sind unabhängig von Praxis- oder Apothekenverwaltungssystemen, sind kein Callcenter-Anbieter und damit die Freunde der niedergelassenen Ärzte, Apotheker und Heilpraktiker.“ Die Videosprechstunden der DAAG laufen über ein Plug-and-Play-System, das auch ohne Anbindung an Praxisverwaltungs- oder Warenwirtschaftssysteme sofort nutzbar ist.

Entscheidend sei dabei aber, nicht aus der technischen Perspektive zu beginnen, sondern dem Weg des Geldes innerhalb des Gesundheitssystems zu folgen. Erst kämen die Use Cases, dann die Frage der GKV-Finanzierung und erst danach die technologischen Finessen, erklärt Roeser sein Vorgehen. Denn entscheidend sei letztlich die Zusammenarbeit mit den Kassen: Ohne eine umfassende GKV-Erstattung wird sich kein Telemedizin-Angebot langfristig halten können – dessen ist man sich auch bei der Konkurrenz bewusst. Er selbst nutze dazu auch seine guten Kontakte in die GKV-Welt – Roeser ist Mitglied im Digitalisierungsbeirat der DAK. „Andere Anbieter denken eher von der Technologie oder den Endverbrauchern aus, wir hingegen von innerhalb des Systems. Wir haben einen enormen Marktzugang und Netzwerkpartner, da kommt nicht mal Doctolib heran.“

Deshalb wisse er auch um die zentrale Rolle der Analytik bei solchen Modellen, die viele Mitbewerber vernachlässigen würden. Sein Credo: Man müsse den Kassen nachvollziehbare und belastbare Daten vorlegen können, welchen konkreten medizinischen Nutzen derlei Online-Angebote haben, um ihnen zu zeigen, dass das Geld, was sie dafür ausgeben, gut angelegt ist. „Wir müssen Ergebnisse messbar machen, um den Kassen zu zeigen, dass das, was sie bezahlt haben, auch zu einem medizinischen Ergebnis führt“, sagt Roeser. „Die Leistung folgt dem Geld, das ist nun einmal der Grundsatz im Gesundheitswesen.“ Hier kommen die Use Cases ins Spiel, bei sogenannten Multikonferenzen beispielsweise. Wie der Name schon sagt, sind das Sprechstunden mit dem Patienten und mehr als einem Leistungserbringer. „Wir machen das heute schon in der Physiotherapie. Patient, Physiotherapeut und Orthopäde besprechen dann gemeinsam das Vorgehen, Übungen und ähnliches.“

Ein noch größeres – und auch für die Kostenträger attraktiveres – Anwendungsfeld könnten die Multikonferenzen allerdings in den Apotheken finden: Die gemeinsame Absprache der Medikation unter Teilnahme von Apotheker, Arzt und Patient. „Endlich reden sie nicht mehr übereinander, sondern miteinander. Endlich integrieren wir diese Bereiche, das ist die wahre Innovation“, sagt Roeser. „In diese Prozesskette wollen wir deshalb sehr viel investieren.“ Dazu fehlt aber noch ein zentraler Baustein: das E-Rezept. Wie alle anderen Anbieter auch muss die DAAG dazu aber noch auf die Spezifikationen der Gematik warten, die planmäßig Ende Juni veröffentlicht werden sollen. „Wir sind gerade dabei, mit mehreren Playern das E-Rezept einzubinden. Sobald die Gematik-Spezifikationen da sind, werden wir damit sehr schnell in die Umsetzung gehen.“

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