Mit zweistelligen Kurssprüngen reagierten die Aktien von DocMorris und Redcare gestern auf die Schlussanträge des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof (EuGH). Das Votum spreche sehr deutlich für Rx-Boni und könnte einen entscheidenden Einfluss auf das zukünftige Wachstum der beiden Versender haben, so die Hoffnung. Aber was bedeutet sein Plädoyer wirklich für Rabatte und Gutscheine – und damit für die Preisbindung?
Wann immer es um die Preisbindung geht, so scheint es, bekommen es die deutschen Apotheken in Luxemburg mit Generalanwalt Maciej Szpunar zu tun. Bereits 2016 votierte der Jurist aus Polen für die Preisgabe der Rx-Preisbindung, damals folgte der EuGH seinen Empfehlungen und sorgte für ein Beben in der Apothekenbranche, das erst mit dem Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) eingedämmt wurde. Diesmal hat er sich mit der Frage beschäftigt, ob das Ausloben von Rabatten und Gutscheinen oder Prämien als Rx-Arzneimittelwerbung einzustufen ist.
Während man hierzulande gehofft hatte, dass der EuGH seine mittlerweile acht Jahre alte und häufig kritisierte Grundsatzentscheidung bei dieser Gelegenheit noch einmal überdenken würde, scheint es Szpunar genau um das Gegenteil zu gehen: Auch wenn er sich in seinen Schlussanträgen sehr eng an den bestehenden Vorschriften entlang arbeitet, lässt sich zwischen den Zeilen doch ziemlich klar herauslesen, dass es ihm ein Bedürfnis zu sein scheint, seine Position zum grenzüberschreitenden Versandhandel zu verteidigen. Jedenfalls lässt er sich auf die Problematik gar nicht weiter ein, stattdessen gibt es immer wieder offene Spitzen gegen die deutschen Strukturen. Ähnlich unprofessionell war seinerzeit übrigens Erfried Schüttpelz aufgefallen, jener Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, der den Streit um die Rx-Preisbindung seinerzeit im Alleingang und entgegen höchstrichterlicher Entscheidungen beim EuGH vorlegte und danach noch einmal ordentlich austeilte.
Szpunar beginnt seine Ausführungen mit einer für Juristen äußert ungewöhnlichen wertenden Einführung: „Werden Patienten, die auf ärztlich verschriebene Arzneimittel angewiesen sind und durch einen Rabatt einer ausländischen Online-Apotheke angelockt werden, in erster Linie dazu verleitet, Arzneimittel zu verbrauchen, oder dazu, bei einer bestimmten Apotheke, die den Rabatt anbietet, einzukaufen? Besteht ein echter Bedarf, diese Patienten vor falschem und übermäßigem Verbrauch von Arzneimitteln zu schützen? Sind sie Opfer der Pharmaindustrie und derjenigen, die ihre Produkte verkaufen, oder Opfer ihrer Krankheiten, für die sie ein Heilmittel oder eine Linderung suchen? Verhalten sich Patienten, die zum Beispiel an einer chronischen Krankheit leiden, unsozial, wenn sie beim Erwerb eines Arzneimittels, das ihnen erstattet wird, ‚Kasse machen‘?“
Der Generalanwalt lobt sich prompt selbst für diese seiner Ansicht nach „anschaulich formulierten Fragen“, die direkt zum Kern des Vorabentscheidungsersuchens führten: „Der Bundesgerichtshof sieht sich mit einer widersprüchlichen Rechtsprechung der deutschen Untergerichte konfrontiert und möchte wissen, wie der Begriff ‚Werbung‘ zu definieren ist, insbesondere im Zusammenhang mit einer Reihe von Urteilen, die der Gerichtshof in den letzten zehn Jahren erlassen hat.“
Eigentlich hatte der BGH den Fall nicht wegen der Vorinstanzen, sondern wegen komplett unterschiedlicher Entscheidungen des EuGH vorgelegt. Aber bevor Szpunar dann tatsächlich in seine Analyse einsteigt, stellt er noch unverhohlen seine Position zum Versandhandel vor: „In der vorliegenden Rechtssache haben wir es erneut mit DocMorris zu tun, einer niederländischen Versandapotheke, die bereits mehrfach Partei eines Ausgangsverfahrens war, das zu einem Vorabentscheidungsersuchen geführt hat. Diesmal geht es um Rabatte. Unterschiedliche Praktiken ausländischer Unternehmen, die Rabatte anbieten, sind den Wirtschaftsteilnehmern, die bereits fest auf dem nationalen Markt etabliert sind, ein Dorn im Auge. Sie machen geltend, dass das Anbieten von Rabatten beim Verkauf von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln eine ‚Werbung für Arzneimittel‘ im Sinne der Richtlinie 2001/83/EG darstelle.“
Die Vorgaben für Werbung im Arzneimittelbereich sind einheitlich geregelt.
Abgesehen davon, dass diese Bestimmung nach Szpunars Überlegungen eher auf Hersteller, Großhändler und „medizinische Handelsvertreter“ sowie Importeure ausgerichtet und nicht auf die Apotheken, ist er der Überzeugung, dass es sich bei Rx-Boni gar nicht um Rx-Werbung handelt: Es gehe nicht darum, den Patienten „in der Entscheidung für ein bestimmtes Arzneimittel zu beeinflussen, sondern in der – nachgelagerten – Entscheidung für die Apotheke, bei der er das Arzneimittel kauft“. Dies falle nicht unter den Begriff „Werbung für Arzneimittel“ im Sinne von Artikel 86.
Die von DocMorris vermittelte Botschaft ziele darauf ab, den Patienten zu veranlassen, sich für DocMorris und keine andere Apotheke zu entscheiden. „Indem die Botschaft lautet ‚Kommen Sie zu uns‘ und nicht ‚Kaufen Sie diese (bestimmten oder unbestimmten) Arzneimittel‘, fokussiert sich DocMorris auf den Verkauf an den Patienten und nicht auf den Verkauf von (bestimmten oder unbestimmten) Arzneimitteln.“
Dies gelte einerseits für sofortige Preisnachlässe: „Was die sofortigen Rabatte betrifft, so ist entscheidend, dass der Patient im vorliegenden Fall bereits weiß, welches Arzneimittel er kaufen will. Dieses Arzneimittel wurde von einer Fachkraft verschrieben, die dazu befugt ist. Die Rabatte werden nur für den Verkauf von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gewährt. Sobald ein Patient ein Rezept erhalten hat, bleibt ihm nur noch die Wahl der Apotheke, bei der er das Arzneimittel beziehen möchte. Alles andere hat der Arzt bereits festgelegt: ob ein Arzneimittel verschrieben wird, die Menge, die verschrieben wird, sowie die Dosierung und die Intervalle, in denen die Arzneimittel vom Patienten eingenommen werden sollen.
Aber auch in Bezug auf künftige Rabatte, als Gutscheine, die bei künftigen Käufe eingelöst werden könnten, werde dem Patienten die gleiche Botschaft übermittelt. „Es geht nicht darum, einen Patienten zum Kauf einer bestimmten Anzahl von Arzneimitteln zu bewegen. Die Rabatte gelten für die gesamte Produktpalette nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel und nicht verschreibungspflichtiger Gesundheits- oder Schönheitsprodukte einer Apotheke.“ Arzneimittel seien also nur ein Teil dieser Produktpalette.
Laut Szpunar gibt es einen grundlegenden Unterschied zur Werbeaktion der baltischen Apothekenkette Euroaptieka, die der EuGH vor zwei Jahren verboten hatte. Dort wurde beim Kauf von OTC-Arzneimitteln einen Preisnachlass von 15 Prozent gewährt, wenn mindestens drei Packungen erworben wurden. Laut Szpunar wurden Kunden daher unmittelbar und eindeutig dazu veranlasst, mehr von einem bestimmten Arzneimittel zu kaufen, auch wenn dieses in der Werbung nicht vorgegeben war. „Der Patient konnte die Werbeaktion nicht in Anspruch nehmen, ohne eine gewisse Anzahl von Arzneimitteln zu kaufen.“ Es liege seiner Ansicht nach auf der Hand, eine solche Praxis als „Werbung für Arzneimittel“ zu bewerten. „Dies hatte ich dem Gerichtshof im Übrigen in meinen beiden Schlussanträgen in dieser Rechtssache vorgeschlagen.“
Ganz anders bei DocMorris: Hier seien die Rx-Boni nicht geeignet, den unzweckmäßigen Einsatz von Arzneimitteln zu fördern, da „der Erwerb eines Arzneimittels eine ärztliche Verschreibung unter der Aufsicht der zur Verschreibung der betreffenden Arzneimittel berechtigten Personen voraussetzt“. Da die Entscheidung über die Verschreibung des Arzneimittels bereits getroffen worden sei und das Arzneimittel daher für den vorgesehenen Zweck verwendet werde, sehe er nicht, wie die Boni zu einem Missbrauch beim Verbrauch von Arzneimitteln führen könnten, so Szpunar.
Das Argument der Apothekerkammer Nordrhein (AKNR), dass Patienten Ärzte dazu verleiten könnten, ihnen bestimmte Produkte oder größere Mengen bestimmter Produkte zu verschreiben, kehre nicht nur die „Standardannahmen“ um, die allen in Frage stehenden Unions- und nationalen Rechtsvorschriften zugrunde lägen – nämlich dass Ärzte als Experten verschrieben und Patienten „buchstäblich auf der Empfängerseite“ stünden. Es sei sogar ein Versuch, ein schlechtes Licht auf andere zu werfen: „Angeheizt durch gierige – in der Regel ausländische – Versandapotheken verleiten schwache Patienten skrupellose Ärzte dazu, ihnen eine übermäßige Menge an Arzneimitteln zu verschreiben.“
Schon in anderen Fällen habe der EuGH klargestellt, dass es grundsätzlich keine besondere Gefahr für die Gesundheit des Patienten darstelle, wenn aus ärztlicher Sicht die Verschreibung des einen wie des anderen Mittels in Betracht komme. Jedenfalls könne es nicht die Objektivität des Verordners beeinträchtigen: „Ein verschreibender Arzt darf ein Arzneimittel nach den Berufsregeln nicht verschreiben, wenn es für die therapeutische Behandlung seines Patienten nicht geeignet ist.“
Zu guter Letzt sei die unternehmerische Freiheit anzuerkennen: „Es ist nur natürlich, dass eine Apotheke versucht, ihr Geschäft zu fördern, und nicht etwa, ihre Kunden zum Verbrauch von Arzneimitteln zu animieren.“ Die Richtlinie regele im Prinzip nur den letztgenannten Aspekt. Daher dürfe sie nicht allzu weit ausgelegt werden, „damit der erstgenannte Aspekt, nämlich Werbemaßnahmen, um das Geschäft zu fördern, nicht praktisch ausgeschlossen wird“. Jedenfalls habe der BGH, sofern die Bestimmungen der Richtlinie 2001/83 nicht anwendbar seien, „den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere die darin verankerten Grundfreiheiten, zu beachten“.
Mehrere Experten zeigten sich in einer ersten Reaktion sehr verwundert über die Schlussanträge, denn zuletzt habe der EuGH in der Regel deutlich restriktiver entschieden:
Entscheiden muss am Ende der Bundesgerichtshof (BGH), der den Fall in Luxemburg vorgelegt hatte. Theoretisch könnten die Richter in Karlsruhe also wohl immer noch auf § 7 Heilmittelwerbegesetz (HWG) verweisen, nach dem es dem Grunde nach verboten ist, „Zuwendungen und sonstige Werbegaben (Waren oder Leistungen) anzubieten, anzukündigen oder zu gewähren“ – insbesondere „soweit sie entgegen den Preisvorschriften gewährt werden, die aufgrund des Arzneimittelgesetzes oder des Fünften Buches Sozialgesetzbuch gelten“.
Vom EuGH wollte der BGH im Grunde „nur“ wissen, ob die Vorschriften nach § 7 HWG nicht ohnehin schon unter die in Artikel 87 der EU-Richtlinie geregelte Vorgabe fallen, dass Arzneimittelwerbung „einen zweckmäßigen Einsatz des Arzneimittels“ fördert, indem sie „seine Eigenschaften objektiv und ohne Übertreibung darstellt und nicht irreführend ist“.
Im Grunde könnte die Euphorie an der Börse also schnell verfliegen. Denn auch wenn der Generalanwalt derselbe ist wie 2016, wird im Fall eine andere Kammer entscheiden. Und selbst dann müsste der BGH ein Urteil fällen – und in Karlsruhe neigte man in der Vergangenheit nicht dazu, allzu leichtfertig mit der Preisbindung umzugehen. Hinzu kommt schließlich, dass die Preisbindung vom Arzneimittel- ins Sozialrecht überführt wurde: Wer mit den Krankenkassen abrechnen will, muss sich an den einheitlichen Abgabepreis halten. Und zu guter Letzt: Eigentlich dürften gar keine Nachlässe gegenüber den Endverbrauchern gewährt werden, denn immerhin sind es die Kassen, die das Medikament bezahlen. Rabatte an die Patientinnen und Patienten müssten nach Ansicht von Juristen den Kostenträgern weitergereicht werden – alles andere wäre mehr oder weniger Betrug.
Sollten sich die Richter in Luxemburg und Karlsruhe allerdings dem Votum des Generalanwalts anschließen, könnte der AKNR doch noch eine Millionenzahlung drohen. Im Verfahren geht es nämlich eigentlich um Schadenersatz, den DocMorris wegen der zahlreichen Abmahnungen und Prozesse fordert, die vor dem Hintergrund des 2016 ergangenen EuGH-Urteils ungerechtfertigt waren. 18,5 Millionen Euro zuzüglich Anwaltskosten soll die Kammer laut DocMorris zahlen, was laut Justiziarin Dr. Bettina Mecking im bisherigen Prozess allerdings durch keinerlei konkrete Berechnungen substantiiert worden sei, sodass man von einer Zahlungspflicht weit entfernt sei. Für die Branche wäre das dann aber wohl noch das geringste Problem.