Das „800 Jahre alte Gildensystem“ der Vor-Ort-Apotheken ist ineffizient, kritisiert DocMorris-Vorstand Olaf Heinrich. Diese gezielte Provokation kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass man auch in Heerlen auf der Suche nach zukunftsfähigen Konzepten über Binsenweisheiten noch nicht hinausgekommen ist. Denn bei aller berechtigten Kritik: Lieber sollte man das vermeintlich antiquierte System nachbessern, als den Verlockungen des freien Marktes zu verfallen. In der Gesundheitsversorgung darf wirtschaftliche Effizienz nicht zum alles bestimmenden Maßstab werden, kommentiert Tobias Lau.
Wenn Heinrich konstatiert, dass das System der inhabergeführten Apotheke wirtschaftlich ineffizient sei, mag er sogar recht haben, zumindest im Vergleich zu einem börsennotierten Online-Konzern. Die dezentrale Versorgung vor Ort hat ihren Preis – und trotzdem ihre Berechtigung. Denn Patientenwohl und Aktionärswohl sind eben nicht immer deckungsgleich. Das müssen sie auch nicht sein. Verwerflich wird es aber dann, wenn zu Werbezwecken behauptet oder auch nur insinuiert wird, dass es so wäre.
Selbstverständlich sagt Heinrich das nicht so platt, aber er predigt dasselbe wie alle großen Versender und Advokaten einer Liberalisierung im Gesundheitsmarkt: Mehr Convenience bedeutet mehr Patientenwohl, mehr Regulierung weniger Innovation. Zuhause sitzen, mit dem Arzt skypen, das elektronische Rezept an DocMorris mailen, sich die neue Verordnung automatisch in den dort hinterlegten Medikationsplan eintragen lassen und dann einfach nur das Medikament aus dem Briefkasten holen. Es mag stimmen, dass das vor allem für Chroniker eine Erleichterung und Verbesserung der Lebensqualität bedeutet.
Doch das könnte sich auch als Milchmädchenrechnung herausstellen. Denn das volle Leistungsspektrum der Vor-Ort-Apotheken kann kein Onlineversender abdecken. Jeder, der einmal mitten in der Nacht dringend ein Medikament brauchte, kann das aus erster Hand bestätigen. Wer springt also zur Not ein, wenn ein flächendeckender Nacht- und Notdienst irgendwann nicht mehr gewährleistet werden kann? DocMorris und die Shop-Apotheke sicherlich nicht, sondern der Staat. Dabei sollte das Beispiel der Finanzialisierung warnen: Schon einmal hat der neoliberale Zeitgeist durch die Deregulierung des Bankenwesens zur Vergesellschaftung von Milliardenschulden geführt. Die Steuerzahler müssen bis heute für die Profitgier einer von der Realwirtschaft entkoppelten Investoren-Elite aufkommen. Die gleichen Fehler dürfen im Gesundheitswesen nicht wiederholt werden. Innovation muss mit Regulierung vereinbar sein.
Sicher, an dieser Stelle muss durchaus auch ein Wort der Kritik an die Standesvertretung der Apotheker gerichtet werden, die sich doch oft allzu sehr auf das Erhalten oder Wiederherstellen von Privilegien konzentriert hat, das ebenso als Allgemeingut zu camouflieren versucht und dabei vernachlässigt, am Rüstzeug für die Zukunft zu arbeiten. Doch gibt es mittlerweile mehr als genug hinreichende Belege dafür, dass allein der freie Markt eben auch nicht alles zum Besseren regelt, zumindest nicht zum Besseren für die Allgemeinheit.
Ein Unternehmen muss natürlich nach geschäftlichen Gesichtspunkten effizient arbeiten und auch in der Gesundheitsbranche ist privatwirtschaftliche Innovationskraft unverzichtbar. Man fordert aber auch nicht gleich die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, wenn man darauf hinweist, dass Regulierung gerade im Gesundheitswesen ihre Berechtigung hat – vielleicht sogar mehr als in allen anderen Wirtschaftszweigen. Denn gerade hier gilt es, dem Primat der Effizienz enge Schranken zu setzen.
Radikal zugespitzt: Aus dem Blickwinkel volkswirtschaftlicher Effizienz macht es gar keinen Sinn, arbeitsunfähige Chroniker zu behandeln. Durch die fehlende Arbeitsleistung der Versorgten macht der Rohertrag der Leistungserbringer die Kosten für Staat und Gesellschaft nicht wett – erst recht, wenn man die Arbeitsausfälle pflegender Angehöriger mit einberechnet. Aber Menschen sind eben nicht nur Wirtschaftssubjekte und -objekte, sondern Menschen!
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