Der Markt für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) muss erstmals einen Wachstumsknick verkraften. Zu diesem Ergebnis kommt die am Montag vorgestellte „9. EPatient Survey“ des Marktforschungsunternehmens EPatient Analytics. Das heißt: Zwar kann sich die absolute Mehrheit der Patienten gut vorstellen, Apps in ihre Therapie zu integrieren – doch nur eine sehr kleine Minderheit tut das bereits. Damit sich das ändert, brauche es vor allem in den Apotheken mehr Engagement, erklärt Studienautor Dr. Alexander Schachinger.
Apotheken, Ärzte, Krankenkassen: Sie alle müssen gemeinsam die Digitalisierung des Gesundheitswesens gestalten oder sie erleiden, wie es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beinahe täglich sagt. Vor allem der Telemedizin wird dabei eine große Zukunft als Teil der Regelversorgung vorhergesagt. Doch bis dahin ist es offensichtlich noch ein weiter Weg: Anbieter wie Kry berichten zwar von explodierenden Nutzerzahlen – doch wie niedrig deren Ausgangsniveau ist, zeigt ein Blick in die Umfrage. Zwar hat sich die Zahlen der Nutzer demnach verdreifacht, allerdings nur von 0,7 Prozent auf 2 Prozent. „Wenn aktuell auch durch Corona lediglich 2 Prozent der Befragten Online-Sprechstunden nutzen, ist das ein für mich ernüchterndes Ergebnis“, so Schachinger. Die wenigen, die Online-Sprechstunden in Anspruch nehmen, sind dafür höchst zufrieden. 80 Prozent derjenigen, die Telemedizinangebote bereits genutzt haben, würden das gern wieder tun.
Ernüchternd ist allerdings nicht nur die geringe Zahl von Nutzern, sondern auch deren Ursache, zumindest nach Auffassung von EPatient Analytics: Die aktuelle Studie – mit 9700 Befragten nach eigenen Angaben die größte ihrer Art – habe nämlich gezeigt, dass die Nachfrage regional und soziokulturell stark variiert. Verkürzt gesagt: Videosprechstunden werden vor allem dort weniger genutzt, wo sie am notwendigsten wären, nämlich in strukturschwachen Regionen. „Die Ursache für die regionale Spreizung liegt auf der Hand: Mangelnder Breitbandausbau“, so EPatient Analytics. So habe jeder fünfte Nutzer angegeben, dass er Übertragungsschwierigkeiten hatte. Entsprechend würden Videosprechstunden auch im breitbandstarken Süden der Republik mehr genutzt als im Norden. „Der Plan der Politik mit dem digitalen Arzt Versorgungslücken zu schließen, platzt aufgrund des seit Jahren stagnierenden Breitbandausbaus“, resümieren die Marktforscher.
Noch ernüchternder sieht es bei den DiGA aus, also Diagnostik-, Medikamenten- oder Coaching-Apps wie Kaia Health, MySugr, Selfapy oder MyTherapy. So stieg beispielsweise der Anteil derer, die Wearables oder Apps mit Tracking-Funktion nutzen von 2016 bis 2019 kontinuierlich von 16 auf 20 Prozent – 2020 konnte erstmals gar kein Wachstum verzeichnet werden. Ähnlich sieht es bei den Diagnostik-Apps aus, sie wuchsen bis 2019 von 6 auf 11 Prozent und stagnieren dieses Jahr ebenfalls erstmals auf diesem Wert. „Die Ergebnisse sind so vernichtend schlecht, dass wir sie nur positiv sehen können“, sagt Diana Heinrichs, die als Gründerin und Geschäftsführerin von Lindera selbst Marktteilnehmerin ist und den Spitzenverband digitale Gesundheitsversorgung mitgegründet hat.
Das innovative Potenzial sei da, aber: „Es ist für junge Unternehmen extrem schwer, auf das DVG zu bauen“, so Heinrich. „Es bewegt sich eine Menge, alle wollen irgendwie, aber wir finden noch nicht so richtig zusammen.“ Dabei gilt auch bei den DiGA: Diejenigen, die sie nutzen, berichten von guten Erfahrungen. Von jenen Befragten, die bereits eine Medikamenten-App nutzen, gaben 84 Prozent an, dass sie dank der App deutlich besser mit ihren Arzneimitteln umgehen können und sie regelmäßiger einnehmen. Wenn die allermeisten Patienten mit den digitalen Gesundheitsanwendungen zufrieden sind, warum gibt es dann nicht viel mehr von ihnen? Schachinger sieht dafür mehrere Gründe: Einerseits sei das Potenzial der „Early Adopter“, also der Erstnutzer, offenbar bereits ausgeschöpft, bevor die digitalen Angebote großflächig in die Regelversorgung integriert wurden. „Die Verbreitung von Technologien in der Bevölkerung braucht Jahre“, erklärt Schachinger. „Online-Banking gibt es seit 15 Jahren, aber der Anteil liegt immer noch nur bei knapp der Hälfte der Bankkunden.“
Außerdem ist das Profil der „Early Adopter“ recht klar: Die große Mehrheit ist unter 40, überdurchschnittlich digital aktiv und hat einen akademischen Bildungshintergrund. „Der Trend zur digitalen Zweiklassenmedizin ist absehbar“, so die Marktforscher. Denn jung, digital und gebildet heißt auch, dass die Erstnutzer größtenteils in Eigenregie recherchieren, welche Gesundheitsanwendungen zu ihnen passen. Zwei Drittel der befragten Nutzer gaben an, dass sie sich ihre Informationen online selbst beschaffen. Andere Verbreitungskanäle nehmen zwar in den vergangenen Jahren tendenziell zu, liegen aber nach wie vor weit abgeschlagen: 15 Prozent gaben an, über Werbung in Massenmedien von einer genutzten DiGA erfahren zu haben, 18 Prozent durch Empfehlungen von Krankenkassen, 9 Prozent vom Arzt und gerade einmal 4 Prozent in der Apotheke vor Ort.
„In Deutschland scheinen die Kassen noch einen Vertrauensvorschuss zu genießen“, schlussfolgert Schachinger. Allerdings könnte das Ungleichgewicht bei den Empfehlungen auch auf die Untätigkeit der anderen Player im Gesundheitswesen zurückzuführen sein. 95 Prozent der Befragten gaben an, dass sie noch nie von ihrem Arzt eine Empfehlung für eine digitale Anwendung bekommen haben. „Eine Technikinnovation muss in die Breite. Sie einfach ins Netz zu stellen, reicht nicht“, sagt Schachinger, der vor allem bei den Apotheken Nachholbedarf sieht. „Die Einbindung am Point of Sale hat viel Potenzial.“ Und das werde bisher nicht genutzt. „Die Rolle der Apotheke als Berater ist gigantisch unterbelichtet. Ein Apotheker hat noch mehr Patientenkontakte als ein Arzt und ist eine noch niedrigschwelligere Anlaufstation.“
Allerdings scheine es schwer, in die Branche hineinzuwirken. „Mit Apothekenvertretern darüber zu sprechen war sehr schwierig“, sagt Schachinger. In der Schweiz beispielsweise sei der Zugang digitaler Angebote zu den Apotheken einfacher: Durch die dortigen Kooperationen sei eine schnelle Verbreitung gewährleistet. „Wenn die sich entscheiden, eine App anzubieten, dann steht die in tausenden von Schweizer Apotheken im Regal und wird von den dortigen Mitarbeitern den Patienten empfohlen“, so Schachinger. „In Deutschland besteht der Markt aber eher aus vielen Einzelkämpfern.“
Ähnlich sehe es bei den Ärzten aus, berichtet Dr. Dominik Pförringer, selbst Arzt und Digitalunternehmer. „Wenn ich vor Ärzten über DiGA gesprochen habe, hatte ich immer das Gefühl, ich brauche eine kugelsichere Weste. Alle denken, ihnen wird etwas weggenommen.“ Dabei seien den DiGA die Praxispforten nicht prinzipiell verschlossen. „Wir haben festgestellt, dass Ärzte durchaus begeisterungsfähig sind – wenn die Apps keinen weiteren Aufwand bedeuten. Sie müssen in den Praxisalltag integriert werden“, fordert Julia Hagen, Director Regulatory and Politics beim Health Innovation Hub des Bundesgesundheitsministeriums. Umgekehrt gelte auf Patientenseite: „Damit wir die Nutzer nicht verlieren, braucht es Convenience.“ Das gilt beispielsweise für die Einfachheit der Logins. „Uns erreichen Kundenrückmeldungen, dass sie gern einen zentralen Zugang hätten“, erklärt Helmut Gerhards, Chief Digital Officer der DAK-Gesundheit. Außerdem müssten die jeweiligen Anwendungen besser in den Versorgungskontext eingebunden werden.
Dazu müssen bei Apothekern und Ärzten aber offensichtlich noch einige dicke Bretter gebohrt werden. Auch Pförringer vermutet, es könne „noch acht, neun, zehn Jahre dauern“, bis Gesundheitsapps in der Breite angekommen sind. Die bisherigen Widerstände müssten aber zugunsten einer konstruktiveren Haltung aufgegeben werden. „Wenn ich kannibalisiert werden soll, ist es klug, wenn ich unter den Kannibalen schon Verbündete habe“, so Pförringer. „Wir haben schon einige Technologiebrüche gut überstanden, da werden wir das im Sinne unserer Patienten auch noch schaffen.“
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