Diabetes

Telemedizin gegen Teststreifen-Schwarzmarkt Julia Pradel, 04.05.2015 10:55 Uhr

Berlin - 

Bei Ebay gibt es einen gigantischen Markt für Blutzuckerteststreifen: Professor Dr. Heiko Burchert von der Fachhochschule Bielefeld hat Verkäufer und Käufer analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass der Graumarkt „immense negative gesellschaftliche ökonomische Gefahrenpotenziale“ birgt. Abhilfe könnten aus seiner Sicht telemedizinische Anwendungen haben. Damit könnte der Patient unterstützt und gleichzeitig kontrolliert werden – und würde nur so viele Teststreifen erhalten, wie er tatsächlich verbraucht.

Die Überlegung, alternative Beschaffungswege zu untersuchen, kam Burchert 2010. Er hat selbst Diabetiker in der Familie und hatte – zunächst aus Spaß – geschaut, ob es Blutzuckerteststreifen auf Ebay gibt. 2012 untersuchte er zunächst, wie die Zahl der Angebote über die Wochen und das ganze Jahr hinweg schwankt.

Er beschloss, die Sache genauer zu analysieren. An einem Tag im Juni 2012 machte er eine erste Bestandsaufnahme: Etwa 1200 Angebote von rund 500 privaten Verkäufern standen damals auf der Website. Burchert analysierte deren Verkaufshistorie seit dem 1. Januar 2011 an. Damals habe er noch einsehen können, an welchem Tag ein Verkäufer wie viel veräußert habe, seit September 2014 gehe das nicht mehr, erklärt Burchert. An einem weiteren Tag Anfang 2013 wurde eine zweite Bestandsaufnahme gemacht, wieder waren rund 500 Verkäufer aktiv.

Insgesamt untersuchte Burchert 939 Verkäufer. Er schätzt, dass es insgesamt rund 2500 private Anbieter gibt, die Blutzuckerteststreifen verkaufen. Täglich gibt es 30 bis 40 neue Angebote. Insgesamt waren es mindestens 800, aber auch bis zu 1300 Angebote. Burchert geht davon aus, dass alle Anbieter im Untersuchungszeitraum 16 Millionen Teststreifen verkauft haben. Ausgehend von 50er-Packungen entspräche das 320.000 Packungen.

Bei einem Packungspreis von 28,32 Euro wäre dies ein Schaden von 9,1 Millionen Euro, der den Krankenkassen entstünde, rechnet Burchert. „Denn diese Gelder flossen nicht in ein adäquates Therapie-Selbstmanagement der Diabetiker, sondern führten zu privaten Ebay-Einnahmen von Höhe von circa 5,3 Millionen Euro“, so Burchert.

Burchert unterscheidet vier Verkäufergruppen: Diabetiker, dankbare Versorger und Entsorger, die Produkte von Patienten oder aus deren Nachlass erhalten, und Massenrealisierer. Von den 939 analysierten Verkäufern zählt Burchert elf zu der letzten Gruppe, zu der er Personen mit einem „beruflichen Zugang“ zu Teststreifen zählt, die regelmäßig viele Produkte verkaufen. Sie haben im Beobachtungszeitraum knapp 400.000 Teststreifen veräußert – das entspricht 16 Prozent der Gesamtmenge.

Das bedeutet laut Burchert, dass 84 Prozent der verkauften Teststreifen aus Verordnungen insulinpflichtiger Diabetiker stammen. „Hierin liegt ein beträchtliches Gefährdungspotenzial der jeweiligen Diabetes-Situation“, findet er. Würden die verordneten Teststreifen verkauft, statt sie zu nutzen, bestünde die Gefahr von Hyper- und Hypoglykämien. Für die Kosten stünden die Krankenkassen ein, die somit „die negativen Folgen einer individuellen Nebenverdienstmöglichkeit übernehmen“.

Aber auch auf der Käuferseite sieht er Risiken. Die Käufer teilt Burchert in drei Gruppen: Auf- und Wiederverkäufer, die häufig große Mengen an Teststreifen übernehmen und wieder zum Verkauf anbieten. Außerdem nutzen „ängstliche“ Typ-I-Diabetiker, denen die verordnete Zahl an Testreifen nicht ausreicht, und Typ-II-Diabetiker, die von der ärztlichen Versorgung ausgeschlossen sind, Angebote von Verkäufern auf Ebay. Beide Käufergruppen ersteigern möglichst günstig Posten von 100 bis 200 Teststreifen oder auch einmal eine 50er-Packung meist derselben Marke. Burchert schätzt, dass den rund 2500 Verkäufern etwa 5000 Käufer gegenüberstehen.

Kritisch zu bewerten sind aus Burcherts Sicht die Lagerungsverhältnisse und die Versandbedingungen, unter denen die Teststreifen zu den Käufern gelangen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein Mitarbeiter eines Pflegedienstes, der eine Packung Teststreifen geschenkt bekommen hat, diese erst einmal auf der Hutablage seines Autos liegen lasse – bei 30 Grad im Schatten.

Dies könne eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Teststreifen zu Folge haben. Die Nutzung unbrauchbarer Teststeifen führe in der Regel zu Messwerten, die nicht die aktuelle Stoffwechselsituation wiedergeben. Das könne gesundheits- oder gar lebensgefährdende Entgleisungen zur Folge haben, warnt Burchert.

Er sieht vier Möglichkeiten, um die Nachteile einzudämmen: das Verbot des Online-Handels mit Blutzuckerteststreifen, die Aufhebung der Verordnungseinschränkung, das Messsystem Freestyle Libre von Abbott oder der Einsatz telemedizinischer Systeme. Für die ersten beiden Vorschläge hat Burchert allerdings wenig Hoffnung: Die Aufhebung der Verordnungseinschränkung werde sich wohl erst dann als Lösung herausstellen, wenn die Folgekosten tatsächlich nachgewiesen würden und diese die Höhen der Einsparungen übersteige.

Bislang nutzen aber wohl noch zu wenig Patienten den Graumarkt, als dass es die Verantwortlichen interessiert. Burchert geht aber davon aus, dass sich das ändern wird: „Angesichts der Tatsache, dass zur Zeit deutschlandweit geschätzt 'nur' etwa 5000 Diabetiker ihre Teststreifen über Ebay beziehen, besteht angesichts von 2,5 Millionen insulinpflichtigen Diabetikern, die mehrmals am Tag ihren Blutzuckerwert messen, noch ein beträchtliches Entwicklungspotenzial für diesen Markt.“

Einfacher ist aus seiner Sicht die Unterstützung von Diabetikern durch telemedizinische Systeme. Neben der Unterstützung des Patienten würde ein solches System die Daten automatisiert erfassen und dokumentieren. Der Arzt wüsste also genau, wie oft gemessen wurde und kann seine Folgeverordnung darauf abstimmen. Das Folgerezept könnte sogar automatisch an die Hausapotheke des Diabetikers weitergeleitet werden, die den Patienten mit den verordneten Materialien beliefert.