Warum ein Rx-VV möglich wäre

Di Fabio: Es gibt keine Versandapotheker

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Berlin -

Nachdem es lange unter Verschluss gehalten wurde, hat die ABDA bei ihrer Mitgliederversammlung am Dienstag das vom ehemaligen Verfassungsrichter Udo di Fabio erstellte Gutachten zur Zulässigkeit eines möglichen Rx-Versandverbots veröffentlicht. Das sei sowohl mit unionsrechtlichen als auch mit verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbar, ist sein Fazit. Im EuGH-Urteil zur Preisbindung sieht er ein gefährliches Signal für die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten. Und mit Blick auf das Grundgesetz findet er: Es gibt keine Berufsfreiheit für Versandapotheker – den Beruf gibt es nämlich gar nicht.

Di Fabio seziert in seinem Gutachten, weshalb die Beweggründe für ein Rx-Versandverbot für dessen europarechtliche Zulässigkeit von Bedeutung sind: Demnach wäre ein Versandverbot aus protektionistischen Gründen unzulässig. „Dieser Einwand trifft aber vorliegend nicht zu“, so di Fabio. Stattdessen diene das geforderte Verbot der Aufrechterhaltung der Arzneimittelversorgung in Deutschland mit freiberuflichen Apothekern.

Der 64-Jährige führt dazu eine Reihe an Rechtfertigungsgründen an:

  • den Schutz der Gesundheit der Endverbraucher, für die der Versandhandel nämlich einige Gefahren berge, darunter lange Lieferzeiten, Fehllieferungen, unkontrollierte Lagerbedingungen, strukturelle Defizite zur Beratung oder die Gefahr von Arzneimittelfälschungen,
  • die flächendeckende und gesicherte Arzneimittelversorgung, die durch das Risiko der Ausdünnung bei Preiswettbewerb gefährdet würde,
  • die besondere Stellung der Apotheker als freier Heilberuf, mit dem Gemeinwohlpflichten, ein Gesamtvergütungssystem und nicht zuletzt eine bestimmte Berufsethik einhergehen,
  • der Erhalt der sozialen Sicherungssysteme, bei der er auf die Steuerungsfunktion der Zuzahlung im Zusammenhang mit Rabattverträgen verweist,
  • die Bedeutung der freien Berufe für die finanzielle Stabilität der Kassen, schließlich handelt es sich um einen Vertrauensgütermarkt mit qualitativ hochwertigen Beratungsleistungen.

Im Rahmen ihres Wertungsspielraums können sich die EU-Mitgliedstaaten dabei für unterschiedliche Regulierungskonzepte entscheiden, „was die europäischen Organe respektieren müssen“, so di Fabio. Er betont dabei, dass der EuGH sozial- und gesundheitspolitische Maßnahmen des Unionsgesetzgebers lediglich anhand einer Evidenzkontrolle überprüft, was im weiten Ermessensspielraum und den schwierigen politischen Prognoseentscheidungen begründet ist. „Ansonsten käme es dazu, dass der EuGH Wertungsentscheidungen des Gesetzgebers ersetzen würde.“

Di Fabio argumentiert daraufhin, dass die dafür notwendigen Beweisanforderungen an die Mitgliedstaaten „nicht zu hoch angesetzt werden“ dürfen. „Reine Behauptungen sind zwar nicht ausreichend“, so di Fabio. „Bei Ungewissheiten muss aber auch nicht abgewartet werden, bis ein vollständiger Beweis erbracht ist (Risikovorsorge).“ So erscheine das „Hochschrauben“ der Beweislast im EuGH-Urteil zur Arzneimittelpreisbindung vom Oktober 2016 aus kompetenzrechtlichen Erwägungen und im Hinblick auf die Bedeutung der Schutzgüter „bedenklich“. Der EuGH hatte damals bemängelt, dass es keine ausreichende Datengrundlage gebe, um nachzuweisen, dass der Rx-Versand die Arzneimittelversorgung gefährdet. Zudem hatte der EuGH im Jahr 2003 die Risikobewertung zur Rechtfertigung eines Versandverbots ausreichen lassen – „seitdem haben sich diese Risiken nicht geändert, sondern teilweise sogar bestätigt“, so di Fabio.

Und dann wird der Jura-Professor der Universität Bonn grundsätzlich: Derart „überdehnte Beweisanforderungen“ könnten nämlich „zu einem Prüfstein für die Grenzen europäischer Integration werden“. Denn die Mitgliedstaaten würden dann regelmäßig nicht mehr die Tatsachengrundlagen für die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen erbringen können. „Das würde ihren Wertungsspielraum verkürzen oder sogar leerlaufen lassen“ und konkret im Gesundheitssektor zu einer Asymmetrie führen. Denn die Mitgliedstaaten könnten nicht mehr auf die Folgen grenzüberschreitender Sachverhalte reagieren – die EU wiederum hat aber gar nicht die Rechtssetzungskompetenz, Schutzlücken bei der Gesundheitsversorgung zu schließen. „Eine solche Liberalisierung durch Deregulierung widerspricht dem Ziel eines hohen Gesundheitsschutzes und gefährdet die Realisierung staatlicher Schutzpflichten, die sowohl im nationalen Verfassungsrecht als auch in den Unionsgrundrechten angelegt sind.“

Sein Fazit: „Ein Versandhandelsverbot ist verhältnismäßig, das heißt geeignet und erforderlich. Es wirkt spezifischen Gefahren entgegen und sichert die Erhaltung einer flächendeckenden Versorgung.“ Ökonomische Studien würden darüber hinaus belegen, dass ein Preiswettbewerb eben nicht zur Ansiedlung von Apotheken in strukturschwächeren Räumen führt, sondern im Gegenteil gerade diese Räume verstärktem Konkurrenzdruck des Versandhandels aussetzt: „Entscheidend wird allein der Faktor Preis, nicht Entfernung.“

Auch mit Blick auf das Grundgesetz sieht er keine Hindernisse für ein Rx-Versandverbot. Dessen Gegner argumentieren oft damit, dass sich neben deutschen auch EU-Versandapotheken auf die Berufsfreiheit berufen. Ein eigenständiges Berufsbild des „Versandapothekers“ gebe es aber gar nicht. „Aufgabenstellung und rechtliche Ausgestaltung sind nicht wesentlich anders gelagert als bei Präsenzapotheken“, so di Fabio, „zudem ist die Erlaubnis an den Betrieb einer Präsenzapotheke geknüpft und nicht abgetrennt von dieser Tätigkeit.“ Ein Versandverbot wäre deshalb nur „eine reine Berufsausübungsregel, die durch vernünftige Erwägungen des Geimeinwohls gerechtfertigt werden kann“. Und da gelte, was schon zur europarechtlichen Machbarkeit argumentiert wurde. Außerdem sei ein Versandverbot auch angemessen: Denn aus betriebswirtschaftlicher Sicht treffe es „lediglich marginal in ihrer Berufsausübungsfreiheit“: Schließlich würde ihnen lediglich ein zusätzlicher Vertriebsweg genommen und der OTC-Versand bliebe erlaubt.

Und dann dreht di Fabio den Spieß um: Ein Rx-Versandverbot wäre nämlich nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, der Staat käme damit sogar Aufgaben nach, die das Grundgesetz von ihm verlangt, konkret seiner Infrastrukturverantwortung und Schutzpflicht, die sich aus Artikel 2 ergeben.

Bereits vor zwei Jahren hatte die ABDA zwei Gutachten der Juristen Professor Dr. Ulrich Becker und Professor Dr. Jürgen Schwarze erstellen lassen, die weitestgehend zum selben Schluss kamen wie jetzt di Fabio. Auch Becker hatte schon argumentiert, dass es den Beruf des Versandapothekers als solches nicht gebe. Da ein Verbot des Rx-Versands aufgrund von dessen geringem Anteil am Gesamtumsatz – Becker nennt „unter 2 Prozent“ – keine einschneidende Wirkung hätte, sei es auch gar nicht nötig, mit zu schützenden Allgemeininteressen eine Einschränkung der apothekerlichen Berufsfreiheit zu rechtfertigen.

Wie di Fabio argumentierte auch Schwarze, die vom EuGH in seinem Rx-Boni-Urteil verlangten Beweisanforderungen seien „überspannt und verlangen von den Mitgliedstaaten etwas, wozu sie beweismäßig gar nicht imstande sind“. Damit liege ein Eingriff in den Wertungsspielraum vor, in dessen Rahmen Deutschland „wegen aufkommender Hinweise auf Gesundheitsgefahren“ ein Rx-Versandverbots einführen könne. Auch das Argument, dass ein solches Verbot „rückwärtsgewandt oder antiquiert“ wäre, sieht er als irrelevant. „Ein Rückschrittsverbot gibt es im Europarecht nicht“, so Schwarze.

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