Versandapotheken

Der Europa-Apotheeker Patrick Hollstein, 21.11.2017 10:01 Uhr

Vom Industrie- zum Versandapotheker: Dr. Robert Hess gründete die Europa Apotheek Venlo, weil sein Job bei Hoechst gestrichen wurde.
Berlin - 

Europa Apotheek und Shop-Apotheke: Das Tandem aus Venlo kauft DocMorris gerade den Schneid ab. Lange blieb das Unternehmen im Windschatten der Nummer 1. An die neue Rolle als Börsenpionier und das damit verbundene Interesse der Öffentlichkeit müssen sich die Macher erst noch gewöhnen. Stets im Hintergrund, aber seit den Anfangsjahren dabei ist auch ein Apotheker.

Geboren wird die Europa Apotheek Venlo (EAV) in Frankfurt. Als 1999 der Pharmakonzern Hoechst mit dem französischen Hersteller Rhône-Poulenc zu Aventis verschmilzt, fallen in der Mainmetropole zahlreiche Arbeitsplätze weg. Auch die Osteuropaabteilung wird geschlossen.

Hier arbeitet Dr. Robert Hess. Der damals 41-Jährige hat in den 1980er Jahren Pharmazie in Bayern studiert und 1990 in Münster zur Metabolisierung von Thalidomid promoviert. Bevor es ihn in die Pharmaindustrie verschlägt, arbeitet er einige Jahre in öffentlichen Apotheken bundesweit und versieht auch Notdienste, wie er sagt. Bei Hoechst ist er zunächst im Vertrieb der Diabetesmedikamente tätig. Nach einem Zwischenstopp in Österreich kommt er ins Vertriebsteam für Osteuropa.

Nach dem nicht ganz freiwilligen Abschied vom Pharmakonzern gründet er gemeinsam seinem bisherigen Vorgesetzten Dr. Frank Schulze und einer Handvoll weiterer ehemaliger Kollegen im März 2000 in Bad Homburg die Beratungsfirma Apollo Consult. Zu den ersten Mandanten gehört die Firma Vivanova mit Sitz in der irischen Hauptstadt Dublin.

Viel lässt sich über das 1999 gegründete und 2002 aufgegebene Unternehmen heute nicht mehr rekonstruieren. Hinter der Firma steht eine Holding aus der Schweiz, die handelnden Personen kommen aus Frankfurt. Eine der ersten Versandapotheken überhaupt sei das gewesen, sagen Branchenbeobachter aus jener Zeit. Als Vorgängerin der EAV bezeichnen die Protagonisten von damals selbst ihr Projekt. Hess dementiert: Versandapotheken seien bei Apollo überhaupt kein Thema gewesen. Bei Vivanova sei es um Pharmaprodukte gegangen; zu keiner Zeit habe die Firma etwas mit der EAV zu tun gehabt.

Wie dem auch sei: Im März 2001 geht im niederländischen Venlo unweit der deutschen Grenze die EAV an den Start. Hess ist einer von drei Gründern, mit dabei sind außerdem der heutige CEO Michael Köhler sowie Klaus Gritschneder. Köhler ist ebenfalls ehemaliger Kollege aus der Diabetessparte von Hoechst; er hat nicht nur im Controlling gearbeitet, sondern als Regionalleiter im Raum Niedersachsen auch Vertriebserfahrung gesammelt. In Stuttgart hat er BWL studiert. Gritschneder ist Kommunikationswissenschaftler und hat unter anderem für den Bayerischen Rundfunk gearbeitet und die Öffentlichkeitsarbeit beim Roten Kreuz in München betreut.

Gemeinsam mit Köhler übernimmt Gritschneder die Geschäftsführung der EAV; auch wenn er den Posten schon ein Jahr später wieder abgibt, bleibt er bis zu seinem Ausscheiden Ende 2012 das Gesicht der Versandapotheke in der Öffentlichkeit. Er fädelt den Pick-up-Deal mit der Drogeriekette dm ein, auch bei der Übernahme der EAV durch Medco ist er dabei. Dass die Amerikaner vier Jahre und eine kurze Ehe mit DocMorris/Celesio später die Lust am europäischen Markt verlieren, ist ein Glücksfall für das Management – genauso wie die Übernahme der Shop-Apotheke ein Jahr zuvor. Zwar wissen die Pharmamanager, wie man Kassen mit Rabatten und Hersteller mit Daten ködert. Doch der aus der Fortuna-Apotheke in Köln hervorgegangene OTC-Versender, das zeigt sich gerade jetzt, wird für die weitere Entwicklung entscheidend sein.

Hess bleibt in all den Jahren im Hintergrund. Er gibt keine Interviews, reist nicht zu Kongressen und bekleidet lange auch keine Ämter in der Firma. Dass er sich jetzt überhaupt erstmals überhaupt äußert, ist nur schriftlich und über seinen Anwalt möglich. Er habe kein Interesse an einem Porträt über sich, wolle eine ausgewogene Berichterstattung im Rahmen des Zulässigen aber auch nicht verhindern.

Dabei sollte man seine Bedeutung bei der EAV nicht unterschätzen. Er sorgt dafür, dass das Geschäft auch an den Rändern reibungslos läuft. Vor allem bei der Beschaffung hat er eine Schlüsselrolle. Zwar gibt es einen eigenen Einkauf, der Kontakt zu 300 Lieferanten hält und sowohl für Shop-Apotheke als auch für EAV die Ware bei Herstellern und Großhändlern besorgt. Doch nicht immer kommen die Paletten auf direktem Weg ins Logistikzentrum.

Parallel zur EAV gründet Hess 2001 in Rüsselsheim die Firma APS All Pharma Service – nicht weit entfernt im Frankfurter Vorort Kriftel hat seine Frau zwei Jahre zuvor die Vitus-Apotheke übernommen. APS kommt als Zwischenhändler immer dann ins Spiel, wenn ein Hersteller nicht nach Holland liefern kann oder darf. Wegen interner Vorschriften haben verschiedene Firmen keine Exporterlaubnis beantragt – ein Beispiel ist Berlin-Chemie. Bei DocMorris gibt es mit Centropharm eine ähnliche Konstruktion.

2010 wird in Nettetal – kurz vor der Grenze nach Venlo – eine zweite APS gegründet. Die schmucklose Fabrikhalle wird im Oktober 2017 durch neue Räume in Viersen eingetauscht, die der insolvente Lampenhersteller LemTec Innova hinterlassen hat. Ein Dutzend Mitarbeiter hat APS vor Ort, zweites Geschäftsbein der Firma ist das Haarwuchsmittel Crescina, für das Hess vor einiger Zeit die Vertriebsrechte übernommen hat.

In Venlo hat jetzt er erstmals seit Gründung ein offizielles Amt: Als im Zuge der Abspaltung des OTC-Geschäfts im vergangenen September Köhler und die verantwortliche Apothekerin Theresa Holler zur Shop-Apotheke wechseln, übernimmt er bei der EAV die Geschäftsführung und die pharmazeutische Leitung.

Vor allem aber ist Hess zweitgrößter Anteilseigner. Durch die Fusion von EAV und Shop-Apotheke steigt sein Anteil am börsennotierten Versender von unter 6 auf knapp 8 Prozent. Auf der Grundlage des aktuellen Aktienkurses ist sein Paket damit rund 50 Millionen Euro wert. Nur Köhler hat mehr: Der CEO kommt nach der Verschmelzung auf 21 statt 16 Prozent.