Das Noventi-Drama in fünf Akten Alexander Müller, 22.03.2023 22:02 Uhr
Es sind widerstrebende Bedürfnisse, die im „Geno-Haus“ in Stuttgart nebeneinander Platz genommen haben bei der außerordentlichen Mitgliederversammlung des LAV Baden-Württemberg: „Die Familie muss zusammenstehen!“ gegen „Nicht mit uns!“ Am Ende haben sich die Apotheker:innen – irgendwie erwartungsgemäß – dafür entschieden, Noventi den Kredit zu gewähren. Das Unternehmen hätte auch ohne diesen herbeidiskutierten Mehrheitsbeschluss überlebt – aber so ist es für beide Seiten leichter. Ein Drama in fünf Akten.
Erster Akt: Auftritt der Präsidentin
Tatjana Zambo ist kein ängstlicher Mensch. Die LAV-Vorsitzende hatte sich schon vorab festgelegt, dass die Mitglieder der Empfehlung von Vorstand und Beirat am Ende schon folgen und das Darlehen für Noventi freigeben würden. Sie sollte recht behalten. Dass nur 94 von 1800 Mitgliedern überhaupt abstimmten und knapp die Hälfte davon mit übertragener Stimmkarte, geschenkt. Für eine standespolitische Veranstaltung war die Beteiligung schon sehenswert.
Zambo wusste gleichwohl, dass es kein Selbstläufer wird: „Wir sind uns bewusst, eine für einen Apothekerverband außergewöhnlichen Schritt zu gehen, nämlich für ein Unternehmen einen Kredit zu gewähren.“ Und dann erzählte sie, dass der neue Noventi-Vorstand schon im November 2022 vorgefühlt habe, was die Finanzspritze durch die verbandseigene Vermietungsgesellschaft B.A.G. betrifft. Am 22. Januar waren die neuen Noventi-Chefs Mark Böhm und Frank Steimel dann bei der LAV-Klausurtagung – und wussten offenbar zu überzeugen. Mitte Februar entschied auch der Beirat einstimmig, das Projekt Darlehen zu unterstützen.
Dass der LAV überhaupt einen Kredit gewähren kann, ist laut Zambo dem „glücklichen Umstand geschuldet, dass unsere Vor-Vorfahren ein Grundstück in München gekauft haben“. In besagtem Tomannweg werden bis heute die Rezepte abgerechnet, jetzt wurde der Mietvertrag von Noventi sogar symbolträchtig verlängert. Inhaber der Immobilie ist die B.A.G., an der der LAV beteiligt ist. Kleinere Ausschüttungen im insgesamt fünfstelligen Bereich gab es zwar immer mal wieder an den Verband, aber im Grunde wurden die Mietzahlungen der Noventi auf die hohe Kante gelegt. Das hilft jetzt. „Nur aus diesem Grund sind wir in der Lage, einen Kredit zu geben“, so Zambo.
LAV-Geschäftsführerin Ina Hofferberth fand später noch deutlichere Worte: „Unser normaler Haushalt wird nicht tangiert, sonst hätte ich mich auch quergelegt.“ Nur die Immobilie diene der Darlehenssicherung. Und die Bewertung liege deutlich höher als die benötigten 20 Millionen Euro.
Aber was ist eigentlich passiert bei der Noventi, jenem einst so stolzen standeseigenen Unternehmen? Zambo lieferte schonungslos Zahlen: Ab 2020 wurden die Bilanzen demnach mit aktivierten Eigenleistungen geschönt. Gemeint ist selbstentwickelte Software, deren Wert auf der Habenseite verbucht wird. Ohne diese Maßnahme hätte der Überschuss schon nur noch bei 1,7 Millionen Euro gelegen, 2021 wäre man sogar schon in die roten Zahlen gerutscht. Als Noventi im ersten Halbjahr 2022 trotz neuerlicher aktivierter Eigenleistungen in Rekordhöhe von über 13 Millionen Euro ein negatives EBIT hatte, schrillten die Alarmglocken.
Ein Sanierungsgutachten wurde in Auftrag gegeben. Der Aufsichtsrat hatte nach eigener Aussage einen dahingehenden Tipp „von einem damaligen Vorstand erhalten, der auch heute noch im Vorstand ist“. Das Rätsel kann jeder lösen.
Der LAV wollte sich aber doppelt absichern und hat bei den Wirtschaftsprüfern „Ebner Stolz“ selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben, um das Noventi-Sanierungskonzept zu überprüfen. Demnach sind die positiven Prognosen „nachvollziehbar und vertretbar“. Nach Umsetzung der Maßnahmen sei Noventi „uneingeschränkt zahlungsfähig“. Mit ersten Schritten sei die „Cash-burn-Rate signifikant reduziert“ worden. Das klingt teilweise beruhigend.
Trotzdem hatten die Banken ihre Zusage über 50 Millionen Euro davon abhängig gemacht, dass der Rest des Finanzlochs vom Eigentümer gestemmt wird und der FSA mit 20 Millionen Euro in die Bresche springt. „Familiy & Friends“ nannte Zambo dies, verwies aber auf die getroffene „Schadlosvereinbarung“. Weder der B.A.G. noch dem LAV werde Schaden entstehen. Die anfallenden Zinsen für den Kredit würden über die Miete abgegolten.
Zambos Resümee: „Wir haben es uns nicht leicht gemacht.“ Vorstand und Beirat hätten sich bewusst gemacht, was auf dem Spiel steht. Immerhin 85 Prozent der Mitglieder sind Kunde bei Noventi. „Wir dürfen nicht riskieren, dass das Abrechnungsgeschäft in irgendeiner Form in Gefahr kommt“, warnte Zambo. Die Sorge: Die Politik könnte die Selbstverwaltung bei der Rezeptabrechnung auflösen, wenn nach AvP ein weiteres Rechenzentrum scheitert.
Zweiter Akt: Die Fragerunde
Die Fragerunde wurde stellenweise ungemütlich, für die beiden halb ehrenhaft, halb in Eigeninteresse erschienen Noventi-Vorstände Böhm und Steimel, aber auch für die Aufsichtsrats-Vertreter Jürgen Frasch und Andreas Buck als Gesandte des FSA.
Leiser und bescheidener will die Noventi werden, das „Tennisturnier“ gilt als Sinnbild zurückgelassener Großmannssucht. Die proklamierte Konzentration auf Kerngeschäft allerdings so weit zu treiben, künftig nur noch Rezepte abzurechnen und die „Bad Bank“ Softwareentwicklung ganz abzustoßen, wie von mehreren LAV-Mitgliedern angeregt – so weit kann und will der Noventi-Vorstand nicht gehen. Überhaupt sei schon mehr Profitabilität wieder hergestellt worden als im Gutachten vorgesehen, weil zum Beispiel nicht mehr jeweils vier getrennte Einheiten für Produktentwicklung und Vertrieb befasst sind.
Aber die Frage war nicht aus dem Raum zu bekommen: „Was ist, wenn Noventi das Darlehen nicht zurückzahlen kann?“ Die Antwort des LAV-Vorstands: „Davon gehen wir nicht aus.“ Das überzeugte erwartungsgemäß wenig und provozierte den Nachsatz: „Dann ist das Geld unter Umständen weg. Wenn ich sehe, wie die Noventi die letzten Jahre gewirtschaftet hat, gehe ich davon aus, dass die Noventi es nicht zurückzahlen kann“, so eine Apothekerin.
Böhm und Steimel beschrieben wortreich die „neue Governance“. Es gebe keine Einzelvertretungsberechtigung mehr, der Aufsichtsrat werde wöchentlich informiert und auch mit den Banken gebe es klare Absprachen. Letztere hätten ihre Zusage an das Gutachten gebunden. „Eine größere Sicherheit können wir nicht geben“, so Böhm.
Dritter Akt: FSA im Zeugenstand
2021 ist Noventi noch in die „Macherei“ umgezogen – der Name klingt verhängnisvoll nach der abgelegten Managementkultur. Aber wie sei das möglich, wenn es 2019 schon Liquiditätsprobleme gab, wollte eine aufgebrachte Freiburger Apothekerin wissen. „Wo war der Aufsichtsrat?“
Hier war der FSA-Vorsitzende Frasch gefragt, der qua Amt auch im Noventi-Aufsichtsrat sitzt: Er berichtete von der großen Unzufriedenheit im Kontrollgremium mit dem damaligen Kerngeschäft – diesmal waren Rezeptabrechnung und Warenwirtschaft gemeint. Service und telefonische Erreichbarkeit seien „unterirdisch“ gewesen. „Die Antwort, die uns der damalige Vorstand gegeben hat, war nicht akzeptabel.“
Also nahm der Aufsichtsratsvorsitzende Herbert Pfennig Kontakt mit den zwischenzeitlich engagierten Beratern auf. Das habe dem damaligen Vorstand nicht gut geschmeckt, so Frasch. Die entscheidende Sitzung des Aufsichtsrats ging bis morgens um vier Uhr in der Früh. „Das hat dazu geführt, dass wir am Montagmorgen zwei Vorstände vor die Tür gesetzt haben.“ In den folgenden Gesprächen mit den Banken wurde laut Frasch festgestellt, dass der FSA sogar 80 Millionen beibringen sollte. Das habe man in den Gesprächen auf 20 Millionen herunterhandeln können.
Was die alte Unternehmensspitze aus Dr. Hermann Sommer und Victor Castro betrifft, erklärte Frasch, dass zumindest einer der Vorstände auf die Auszahlung seiner ausstehenden Bezüge klage, übrigens nicht gegen seine Freisetzung. „Wir wollen so weit wie möglich Schadenersatz“, kündigte Frasch. Man sei in einer gerichtlichen Auseinandersetzung und werde versuchen, möglichst viel Geld zurückzuholen. Noch ist die Sache allerdings im „Urkundenprozess“. Doch: „Wir sind positiv gestimmt, dass wir nachweisen können, dass hier wissentlich an der Noventi Schaden verursacht wurde“, so Frasch.
Das Auditorium gab nicht so schnell nach: Das Chaos bei den Softwarelinien sei doch als Managementversagen allgemein bekannt gewesen im Markt. „Spätestens als die Noventi ein Tennisturnier gesponsert hat, hätte man fragen müssen, was macht ihr mit dem Geld?“ Frasch blieb bei seiner Position: „Wenn Sie von dem anderen wissentlich angelogen werden, haben Sie keine Chance.“ Ein Gutachter habe bestätigt, dass der Aufsichtsrat die Fehltritte ohne den später erfolgten Tipp nicht hätte erkennen können. „Man muss davon ausgehen, dass diese Machenschaften sehr deutlich geplant waren.“
Pfennigs Vize, FSA-Vorstand Andreas Buck, ergänzte, dass die Aufarbeitung noch laufe, man aber nicht alles erzählen dürfe. Auch er versicherte: „Tennisturnier, Papst, Trump, FC Bayern: Wir haben immer wieder signalisiert, dass das nicht der Weg sein kann.“ Doch wer sich im Aktiengeschäft auskenne, wisse, dass der Vorstand bestimmt, wo es lang geht. „Mit den uns zur Verfügung gestellten Unterlagen wäre es nicht möglich gewesen zu merken, dass wir so viel Geld verbrennen.“
Vierter Akt: Plan B
Gerade hatte Noventi-Vorstand Steimel wieder über das neue 4-Augen-Prizip (warum eigentlich neu?), Auskunftsverpflichtungen gegenüber Aufsichtsrat und Eigentümern sowie Berichtsformate und -inhalte erzählt und versichert: „Die Noventi steht absolut stabil da. Punkt.“ Da kam, gefolgt von viel Applaus, aus der außerordentlich aufgebrachten Mitgliederversammlung die Feststellung: „Wenn ich völlig stabil dastehe, brauche ich nicht das Tafelsilber der Apotheker.“
Was unweigerlich zu der Frage führte: Was passiert eigentlich, wenn die LAV-Mitglieder die allerseits erwartete Zustimmung verweigern? Was ist der Plan B? Die verkürzte Antwort: Dann haften die Bayern. Denn die von den Banken „gewünschte“ Beteiligung des FSA ist längst geschehen. „Das Geld ist geflossen – unter Freistellung des LAV“, bemerkte Steimel trocken. Hätten die Baden-Württemberger nicht zugestimmt, wäre für die Dauer des Darlehens der Bayerische Apothekerverband und die B.A.G. belastet worden.
Frasch malte noch einen düsteren Plan B-2 an die Wand: Es gebe immer Angebote, mit Fremdkapital in die Noventi einzusteigen. Aber solche Investoren erwarteten regelmäßig viel höhere Erträge als im Sanierungskonzept einplant. „Es gibt immer wieder indikative Anfragen: Was kostet die Noventi?“, so Frasch. LAV-Geschäftsführerin Hofferberth fasste beinahe poetisch zusammen: „Wir wollen die Noventi keiner Heuschrecke zum Fraß vorwerfen.“
Fünfter Akt: Der Schwur
Um 16:23 Uhr war die Aussprache vorbei, Zambo rief die 52 Anwesende zur Abstimmung. Wegen der 42 „bevollmächtigten Stimmen“ mussten einige Anwesende mehrere bunte Stimmkarten jonglieren. Von den 94 Stimmen waren am Ende nur 15 gegen die Bürgschaft, einer hatte noch nicht genug gehört und enthielt sich.
Große Erleichterung beim LAV. Die Erwartungshaltung an Noventi ist klar: 2023 wird noch ein Rückgang im Gesamtergebnis erwartet, weil es eben keine aktivierten Eigenleistungen mehr geben soll und der beschlossene Personalabbau teuer ist. Aber schon 2024 sind positive Ergebnisse eingeplant.