Kurz vor der Bundestagswahl erhält das Thema Cannabis nochmal richtig Schwung: Nachdem der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Erwin Rüddel (CDU), erstmals eingeräumt hat, dass seine Partei in Koalitionsverhandlungen wohl nicht um Kompromisse herumkommen wird, setzte sich auch die Bundesdrogenbeauftragte Daniela Ludwig plötzlich für eine bundesweite Entkriminalisierung geringer Eigenbedarfsmengen ein. Doch der Reformbedarf ist viel weitreichender: Auch bei medizinischem Cannabis ist in der kommenden Legislaturperiode viel zu tun, wie Politiker, Apotheker und Hersteller gleichermaßen bei der International Cannabis Business Conference (ICBC) in Berlin deutlich machten.
Wie geht es weiter mit der deutschen Cannabisregulierung. Die Pflanze hat sich als Rezeptursubstanz in den Apotheken genauso etabliert wie als Therapiealternative in den Arztpraxen. Das enorme Wachstum der Importzahlen belegt das: Wurden im vierten Quartal 2017 – also ein halbes Jahr nach Legalisierung von medizinischem Cannabis – noch 694 Kilogramm medizinischer Cannabis nach Deutschland importiert, waren es im gleichen Quartal 2020 schon fast 3,5 Tonnen, wie Peter Homberg, Vorsitzender der European Cannabis Group erklärte.
Und Deutschland steht nicht allein auf weiter Flur – von medizinischem Cannabis über Consumer-Care-Produkte bis hin zu Lebens- und Nahrungsergänzungsmitteln ist Europa nach den USA der weltweit zweitgrößte Markt, Tendenz stark steigend. Und Deutschland ist nicht nur der Größe nach der wichtigste Markt in Europa, sondern auch der regulatorische Vorreiter: Die USA schreiten Bundesstaat für Bundesstaat voran mit der Liberalisierung, mittlerweile kann fast jeder dritte Amerikaner legal Cannabis zum Freizeitkonsum erwerben. Doch das ist keine Einbahnstraße: „Die Legalisierung in den USA hat einen Impact auf die internationalen Verträge und verringert so die Restriktionen in Europa“, erklärte Beau R. Whitney von der Marktforschungs- und Investmentgesellschaft Whitney Economics. „Aber die EU setzt die Standards in der Regulierung, die schrittweise von den USA übernommen werden.“ Es ist die Arbeitsteilung, die in vielen Märkten und Politikbereichen zu beobachten ist: Die USA gehen voran, Europa macht die Feinarbeit.
Und bei dieser Feinarbeit schauen innerhalb Europas viele auf Deutschland, das laut Whitney vor allem für medizinisches Cannabis das führende Land ist. Doch es hakt gewaltig. Vier Jahre gibt es medizinisches Cannabis nun in Praxen und Apotheken, doch die Verwerfungen, zu denen die bisherige Regulierung führt, sind unübersehbar. So lehnen die Krankenkassen bei rund 40 Prozent der Cannabisverordnungen nach wie vor die Kostenübernahme ab. Der Zustand ist einzigartig: Patienten erhalten ein Arzneimittel verschrieben und müssen dann – oft in Zusammenarbeit mit nicht weniger ahnungslosen Ärzten – Anträge auf Erstattung bei ihren Krankenversicherungen stellen. Das Thema war ein gefundenes Fressen für die Opposition, die sich auf dem Politikpanel mit den Vertretern von CDU und SPD über den Reformbedarf in der kommenden Legislaturperiode stritt.
„Wir haben 2017 im Grundsatz alle zusammen ein supergutes Gesetz gemacht“, erklärte SPD-Gesundheitspolitiker Burkhard Blienert. Doch die Regelungslücken seien offensichtlich und müssten in der nächsten Legislaturperiode angegangen werden. So zeuge die hohe Ablehnungsrate des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) schlicht von einem Verstoß gegen das Gesetz, empörte sich Dr. Wieland Schinnenburg, drogenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Es gebe genug Menschen, die auf medizinisches Cannabis angewiesen sind „und es kann nicht sein, dass ihnen die Krankenkassen das verweigern“, so Schinnenburg. Im März hatte seine Fraktion deshalb vergeblich gefordert, das Vorabprüfungsrecht der Kassen zu streichen.
Das Thema erzeugt seltene Einigkeit in der Opposition: „Wir haben ebenfalls Antrag gestellt, den Genehmigungsvorbehalt zu streichen, gleichzeitig muss aber auch mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden“, erklärte der drogenpolitische Sprecher der Linken, Niema Movassat. „Denn Zugangsschwierigkeiten entstehen nicht nur durch abgelehnte Anträge, sondern auch durch mangelndes Wissen und fehlende Bereitschaft unter Ärzten.“
Hier entstand noch seltenere Einigkeit. Erwin Rüddel, CDU-Bundestagsabgeordneter und Voristzender des Bundesgesundheitsausschusses, teilt die Sicht auf das Problem: „Ich glaube, wir brauchen insgesamt eine Aufklärungsstrategie“, erklärte er. Neben dem Abbau von Vorbehalten und Wissenslücken auf Seit der Verordner müsse allerdings auch mehr in Forschung investiert werden, um weitere Indikationen zu finden, in denen Cannabis als Medizin wirksam ist. Und dann war das noch das Problem mit der Verfügbarkeit: Die ist inzwischen relativ gesichert – allerdings fast ausschließlich von Importabhängigkeit geprägt. Er sei auch der Meinung, dass der deutsche Anbau ausgeweitet werden muss, sagte Rüddel, wollte aber keine konkrete Mengen nennen. Das nahm ihm Schinnenburg ab: Auf 100 Tonnen im Jahr müsse der inländische Anbau ausgeweitet werden, forderte er – inklusive der Möglichkeit, wie andere europäische Länder medizinisches Cannabis zu exportieren. Momentan hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Lizenzen für 2,6 Tonnen im Jahr vergeben, der Export ist weiterhin verboten. „Warum die Bundesregierung bis heute keine neue Ausschreibung gemacht hat, ist mir unbegreiflich. Sie verpennt die Entwicklung und lässt Patientinnen und Patienten im Regen stehen“, kritisierte Movassat.
Die FDP fordert deshalb eine Liberalisierung des Cannabisanbaus, nicht nur quantitativ, sondern auch mit Blick auf die staatlichen Vorgaben. „Ich bin nicht dafür, dass man Cannabis völlig frei anbauen darf, aber es muss nicht in einem Betonbunker sein“, so Schinnenburg. Werner Graf, Vorsitzender der Berliner Grünen, ging da einen Schritt weiter: Er forderte, unter bestimmten Bedingungen selbst den Eigenanbau zu erlauben. Damit hatte er vor allem Rüddel gegen sich. Als Vertreter der Union, die neben der AfD die einzige Partei ist, die weiter an der Cannabis-Prohibition festhält, stand er ohnehin auf recht einsamen Posten – und räumte das auch offen ein. Bei den nächsten Koalitionsverhandlungen werde auch das Thema Prohibition auf den Tisch kommen und dann werde es höchstwahrscheinlich zwei zu eins gegen die Union stehen. Er setze sich deshalb für einen Kompromiss ein: die Erprobung der Freigabe in Modellprojekten, bei denen Apotheken Cannabis an registrierte Nutzer abgeben. Die FDP hat er damit auf seiner Seite, nicht jedoch Die Linke: „In Apotheken kaufe ich doch auch nicht mein Bier“, erwiderte Movassat. In Apotheken gehe man für die Arzneimittelversorgung, nicht zu Freizeit- und Genusszwecken.
In den Apotheken ist der Reformstau auch ohne die Abgabe von Cannabis zu Genusszwecken schon groß genug. Es sei kaum möglich, heute als nicht spezialisierte Apotheke von Zeit zu Zeit ein kleineres Cannabis-Rezept wirtschaftlich zu bedienen, erklärte Florian Heimann, Mitgründer von Cannabis-Apotheke.de auf dem Apothekenpanel. „Es wird momentan alles dafür getan, dass Cannabis ein Special-Pharmacy-Thema bleibt.“ Von der Vergütung bis zu den Rezepturvorgaben seien die bürokratischen Hürden weiterhin viel zu hoch, so seine Kritik. Und das habe nicht nur Auswirkungen auf den Gewinn der Apotheken, sondern auch auf die Versorgung: Die Grenzen der Monographie seien nach wie vor viel zu eng gesteckt, es müssten mehr und innovativere Darreichungsformen ermöglicht werden, so seine Forderung.
Dabei sei die Versorgungslage sehr gut, fast schon zu gut, gab Melanie Dolfen, Inhaberin der Bezirks-Apotheke in Berlin zu bedenken: „Der Markt wird von Blüten überschwemmt. Es ist manchmal schwer, da den Überblick zu behalten.“ Was hierzulande für Unübersichtlichkeit sorgt, bringe anderen europäischen Ländern Probleme, erklärte Sita Schubert, Generalsekretärin der European Medicinal Cannabis Association (EUMCA): „Andere Länder beschweren sich über schlechte Verfügbarkeit, weil der Markt wegen der hohen Preise in Deutschland leergekauft ist.“ Hier könnte eine spürbare Erhöhung der deutschen Produktion inklusive der Aufhebung des Exportverbots gleich doppelt Abhilfe schaffen. Die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen könnten dafür den Weg bereiten.
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