Viele Arbeitgeber scheuen sich, Menschen mit Behinderung einzustellen. Einige Unternehmen wollen daher mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, wie Inklusion gelingen kann. Dazu gehört auch der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim, der sich im Verein „Unternehmensforum“ für die Integration behinderter Menschen engagiert. Olaf Guttzeit ist Schwerbehindertenbeauftragter bei Boehringer und Vorstandsvorsitzender des Unternehmensforums. Er fordert, mehr auf die Chancen zu blicken.
Ein großes Defizit sieht Guttzeit bei der Beratung von Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen: „Die Auszubildenden haben durchgängig erzählt, dass es Schwierigkeiten bei der Berufsberatung in den Schulen und Arbeitsagenturen gab. Die war – vorsichtig gesagt – sehr heterogen.“ Oft hätten die Schüler gesagt bekommen, etwas gehe einfach nicht. „Viele haben viel Frust erlebt, und manche geben ihre Behinderung dann in der Bewerbung nicht mehr an.“
Aus diesem Grund hat das Unternehmensforum 2013 das Inklusionsprojekt „!nkA“ gestartet. „Im Unternehmensforum stellten wir fest, dass es zum einen kaum Bewerbungen von schwerbehinderten Jugendlichen gab und dass zum anderen die Rahmenbedingungen für Unternehmen nicht optimal sind“, berichtet Guttzeit. Unternehmen müssten verschiedene Anträge an verschiedenen Stellen einreichen – und diese unterschieden sich auch noch von Bundesland zu Bundesland. Auch die Schulen müssten eingebunden werden: „Es gab eine gehörlose Bewerberin, die schon in den USA gelernt hatte und die wir gern genommen hätten – allerdings konnte die Berufsbildende Schule hier nicht sicherstellen, dass sie ihr immer einen Dolmetscher zur Seite stellen können. Daran scheiterte es.“
In diesem Jahr haben zum dritten Mal schwerbehinderte Jugendliche ihre Ausbildung in den 15 teilnehmenden Unternehmen begonnen. „Boehringer Ingelheim bildet derzeit insgesamt zehn schwerbehinderte Azubis aus.“ Ende Oktober besuchte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) Boehringer, sprach mit Auszubildenden und informierte sich über die Aktion.
Das !nkA-Projekt wird wissenschaftlich von der Universität Köln begleitet. „Wir wollen unter anderem herausfinden, wie die Bewerbungsphase funktioniert, wie die Einstellungsverfahren ablaufen, wie die Kooperation mit Schulen und Kammern funktioniert oder ob und wie der Übergang ins Berufsleben gelingt“, so Guttzeit. Auf diese Weise könne man wissenschaftlich fundiert darlegen, wo es Optimierungsbedarf gebe.
Dass sich Jugendliche nicht so recht trauen, zeigt sich etwa an den Bewerberzahlen: 40 Ausbildungsplätze bieten die Unternehmen im Rahmen des !nkA-Projektes jedes Jahr an. Im ersten Jahr gab es 60 Bewerbungen, im zweiten nur 40 und aktuell 45. Guttzeit wünscht sich, dass sich Jugendliche mit Behinderung angstfrei bewerben können. „Man sollte darauf schauen, was man besonders gut kann – vielleicht auch gerade wegen der Behinderung“, findet er. „Wie der Rollstuhlfahrer, der über besondere Problemlösungskompetenzen verfügt, gerade weil er im Alltag auf viel mehr Probleme trifft.“
Immerhin, auch im Mittelstand beobachtet Guttzeit inzwischen Bewegung. Das Unternehmensforum vergibt seit einigen Jahren einen Inklusionspreis, in diesem Jahr etwa an eine Zahnärztin aus Hamburg, die gehörlosen Jugendlichen die Ausbildung zu Zahnmedizinischen Fachangestellten ermöglicht. „Das nützt auch ihr: In der Praxis werden mittels Gebärdensprache gehörlose Menschen behandelt – und sie kann sich vor Aufträgen kaum retten“, so Guttzeit. Im vergangenen Jahr wurde das Berliner Reinigungsunternehmen Forever Clean ausgezeichnet, das mit Menschen mit Down-Syndrom arbeitet. „Viele Menschen mit Trisomie 21 sind sehr ordnungsliebend – und damit genau richtig für den Job“, so Guttzeit. Diese Beispiele zeigten, dass sich Inklusion auch für Arbeitgeber lohne.
Von den 14.700 Mitarbeitern von Boehringer Ingelheim haben laut Guttzeit rund 500 eine Behinderung angegeben: klassische Körper- oder Sinnesbeeinträchtigungen, psychische Behinderungen oder Erkrankungen wie Krebs, Parkinson oder Multiple Sklerose (MS). Die Frage sei, was jemand brauche, um seine Arbeitsleistung zu erbringen. Die Bedürfnisse der Mitarbeiter mit Behinderung sind dabei ganz unterschiedlich: „Eine Mitarbeiterin hatte beispielsweise Schwierigkeiten mit dem Großraumbüro und brauchte einfach ein Büro für sich allein.“
Natürlich gibt es auch Grenzen für die Inklusion. „Man kann mit einem Rollstuhl nicht im Reinraum-Bereich der Pharmaproduktion arbeiten, denn der Rollstuhl wird nie staubfrei sein“, erklärt Guttzeit. Das bedeute aber nicht, dass Menschen mit Behinderung gar nicht in der Produktion arbeiten könnten: „Bei uns sind in diesem Bereich zum Beispiel auch zwei Gehörlose tätig.“ Auch für Nicht-Behinderte gebe es Grenzen: So sei es beispielsweise für einen Diabetiker nicht möglich, Pilot oder Lokführer zu werden. „Das Problem ist, dass man bei Menschen mit Behinderung viel zu früh auf diese Grenzen schaut und nicht auf die Möglichkeiten“, kritisiert Guttzeit.
Aus seiner Sicht muss dieser Defizit-Ansatz überwunden werden – „eben nicht darauf zu schauen, was ein Mensch nicht kann, sondern darauf, was er kann“. Man müsse die Bedürfnisse der Menschen und ihre Fähigkeiten erkennen. „Einer unserer Mitarbeiter mit autistischen Zügen war beispielsweise besonders gut darin, Listen abzugleichen – und hat eben eine entsprechende Aufgabe bekommen“, erklärt er.
Eine Frau mit Down-Syndrom wurde bei Boehringer im Bereich der Gärtnerei ausgebildet. Für sie war Guttzeit zufolge ein Ansprechpartner besonders wichtig. „Als ich die Ausbilderin später gefragt habe, ob und was sich durch die Auszubildende geändert hat, erklärte sie, dass inzwischen alles ordentlicher sei – weil die junge Frau darauf Wert legte.“ Außerdem habe die Frau bei Team-Besprechungen häufiger nachgefragt und es habe sich herausgestellt, dass auch ihre Kollegen mitunter froh über die weitere Erklärung waren. „Außerdem gibt es eine Tendenz, die Sache zu entschleunigen – und das ändert die Stimmung im ganzen Team.“
Für Guttzeit geht es darum, die Win-Win-Situation herauszuarbeiten, die sich durch die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ergibt. Das zeigt sich auch beim Thema Barrierefreiheit: „Früher hieß es, man müsse speziell etwas für die Rollstuhlfahrer machen. Heute wird in Barrierefreiheit eher der Nutzen für alle gesehen“, freut sich Guttzeit über den Paradigmenwechsel.
Früher seien Gebäudeteile dann umgebaut worden, wenn ein Mitarbeiter mit Einschränkungen gekommen sei. Heute werde die Barrierefreiheit bei jeder Neuerung mitgedacht, so Guttzeit mit Blick auf ein neues Verwaltungsgebäude, das Anfang des Jahres eingeweiht wurde. „Von Anfang an haben wir darauf hingewirkt, dass das komplette Gebäude barrierefrei ist.“
Von Großraumtoiletten beispielsweise profitierten aus Sicht von Guttzeit auch Mitarbeiter ohne Behinderung – etwa wenn sie mittags eine Runde joggen und einen Raum zum Umziehen brauchen. Daher wurden statt der vorgeschriebenen zwei Behindertentoiletten im Erdgeschoss auf jeder Etage Großraumtoiletten eingebaut. „Und auch die Automatiktüren kommen bei allen gut an, etwa wenn man mit der Kaffeetasse in der einen Hand und Akten in der anderen durch die Flure geht“, so Guttzeit. Er ist überzeugt: „Barrierefreiheit hilft jedem.“ Etwa auch den Geschäftsreisenden, die zum Bahnhof müssten oder vom Flughafen kämen und ihren Koffer dabei hätten.
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