„Keine Revolution, aber stetige Entwicklung“

Baden-Württemberg: Telemedizin für Häftlinge

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Berlin -

Die Coronakrise bringt für die meisten Branchen schlechte Nachrichten – für die Telemedizin könnte sie zur Erfolgsgeschichte werden. Denn aus Sicht von Experten bringt das Virus den Durchbruch für Behandlungen aus der Ferne.

Der Karlsruher Arzt Michael Thomas Becker war von Anfang an begeistert von der Idee der Telemedizin. Beratung per Videokonferenz? Macht er für seine Patienten gerne, wenn auch der Bedarf noch bescheiden ist. Beschaffung von Software, mit der er auch in Sachen Datenschutz auf der sicheren Seite ist? Selbstverständlich, „bin dran“, sagt er. Häftlinge behandeln, ohne vor Ort im Gefängnis zu sein? Auch bei diesem seit vergangenem Jahr auf alle Gefängnisse im Südwesten ausgeweiteten Modellprojekt des Landes ist er dabei.

„Meist geht es um Erkältungskrankheiten“, sagt der Allgemeinmediziner auch mit Blick auf die Patienten seiner eigenen Praxis. „Die Erfahrungen sind insgesamt gut, man kann sehr viel lösen.“ Er prophezeit: „Der große Durchbruch für die Telemedizin kommt jetzt
durch das Coronavirus.“ Es gibt aber auch Zahlen, die dagegensprechen: Die jüngst veröffentlichte aktuelle EPatient Survey kam zu dem Schluss, dass die Nutzerzahlen telemedizinischer Anwendungen zwar stark gestiegen sind, aber weiterhin auf sehr niedrigem Niveau verharren. Nur zwei Prozent der Befragten hatten angegeben, schon einmal eine Online-Sprechstunde genutzt zu haben.

Das Angebot für die JVAs ist ein Beispiel von vielen und zeigt exemplarisch die Vorteile von Behandlungen aus der Ferne. „Auch bei kurzfristigen Ausfällen von Anstaltsärzten kann jederzeit auf die Tele-Ärzte zurückgegriffen werden, so dass die ärztliche Versorgung – auch in der Krise – gewährleistet ist“, lobt der baden-württembergische Justizminister Guido Wolf (CDU). Fast 2300 Mal wurden Häftlinge in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr fernbehandelt, in diesem Jahr geschah das Stand April schon mehr als 1500 Mal, erklärt ein Ministeriumssprecher.

Überhaupt hat sich das Land laut Sozialministerium als Vorreiter in Sachen Telemedizin etabliert. So würden im Zuge der 2017 entwickelten Strategie „Digitalisierung in Medizin und Pflege“ inzwischen 24 Projekte mit einem Gesamtvolumen von rund 11 Millionen Euro gefördert. Schon seit 2016 – damals war Baden-Württemberg damit bundesweit Vorreiter - sind Projekte mit Fernbehandlung zwischen Arzt und Patient, die sich nicht kennen, erlaubt. Seit dem 1. Juni ist dies nach einer entsprechenden Änderung der Berufsordnung der Landesärztekammer auch außerhalb vom Modellprojekten gestattet.

Dafür haben sich inzwischen viele Mediziner gerüstet. „Man kann davon ausgehen, dass Anfang April über 3000 der niedergelassenen Haus- und Kinderärzte die Genehmigung von den Krankenkassen für Videosprechstunden hatten“, erläutert der Präsident der Landesärztekammer, Wolfgang Miller. Laut Kassenärztlicher Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) sind es sogar rund 3800. Das heiße zwar nicht, dass alle diese Möglichkeit bereits nutzten. Es zeige aber, dass die Mediziner vorbereitet seien. „Es ist keine Revolution, die jetzt stattfindet, aber eine stetige Entwicklung, die durch die Coronakrise Schwung bekommen hat“, sagt Miller.

Das stellte auch das Ärztebewertungsportal Jameda jüngst fest. Ende März vermeldete es im Vergleich zum Vormonat eine Steigerung um 1000 Prozent bei der Nachfrage nach Videosprechstunden, die über das Portal vereinbart werden können. Die bundesweite Nachfrage habe sich im April auf hohem Niveau stabilisiert, erklärt eine Sprecherin. Auch Patienten klinken sich aktiv in Angebote ein: Rund 9000 Nutzer verwenden nach KVBW-Angaben inzwischen Docdirekt: Per Videotelefonie können sich Patienten für medizinische Beratung an niedergelassene Ärzte wenden. „Es gibt natürlich einen deutlichen Peak bei den 20- bis 40-Jährigen. Aber man darf die älteren Patienten nicht unterschätzen, auch sie rufen an!“, betont eine Sprecherin. Zwar sind die Patientenzahlen relativ gesehen noch sehr gering, doch sei Docdirekt ein Baustein auf dem Weg zu breiterer Nutzung von Telemedizin, ergänzt Miller.

Auf docdirekt baut laut Sozialministerium auch elektronische E-Rezept auf: Seit fast zwei Jahren wird das Modellprojekt Gerda gefördert. Gerda steht für „geschützter e-Rezeptdienst der Apotheken“ der Landesapothekerkammer und des Landesapothekerverbandes, kann bisher von gesetzlich Krankenversicherten in Stuttgart und im Landkreis Tuttlingen genutzt werden und soll möglichst bald landesweit ausgerollt werden, erläutert ein Ministeriumssprecher. „Das Modellprojekt findet bundesweit große Beachtung und kann dort als Blaupause genutzt werden.“

Die KVBW rechnet damit, dass Telemedizin durch Corona einen langfristigen Aufschwung erfahren wird. Seit der Krise integrierten deutlich mehr Ärzte die Telemedizin in den regulären Praxisbetrieb. „Es lassen sich schnell einfache Fragen klären und mögliche Unsicherheiten aus dem Feld räumen.“ Vor allem aber müssten nicht so viele Menschen in die Praxen kommen. „Das kann auch beispielsweise bei der nächsten Grippe- und Erkältungswelle von Vorteil sein.“

Dass die Telemedizin zwar ein enormer Zusatznutzen, der direkte Kontakt zwischen Arzt und Patient aber grundsätzlich nicht zu ersetzen ist, da sind sich die Experten einig. Aber Medizin und Technik hätten sich nun mal weiterentwickelt, erklärt Oliver Erens von der Landesärztekammer. Auch in der Distanz könne man sich nahe kommen.

 

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