Das insolvente Rechenzentrum AvP hatte noch offene Forderungen gegen die Krankenkassen in den Büchern – aufgrund vermeintlich zu spät geleisteter Zahlungen. Nach erster Sichtung hatte AvP-Insolvenzverwalter Dr. Jan-Philipp Hoos noch gehofft, bis zu 137 Millionen Euro eintreiben zu können. Doch in seinem aktuellen Bericht kommt er zu dem Schluss, dass hier vor allem Bilanzverschönerung seitens AvP betrieben wurde. Dafür hat Hoos jetzt gegen die ehemals finanzierenden Banken des Rechenzentrums zunächst außergerichtlich Forderungen geltend gemacht. Hier dürfte es im neuen Jahr zum Prozess kommen.
Die Krankenkassen müssen gemäß Arzneimittelversorgungsvertrag innerhalb von zehn Tagen ihre Rechnungen begleichen, sonst verlieren sie ihren Anspruch auf den Kassenabschlag in Höhe von 1,77 Euro pro verschreibungspflichtigem Arzneimittel. Insider hatten APOTHEKE ADHOC schon direkt nach der Insolvenz des Rechenzentrums berichtet, dass AvP den vermeintlichen Rabattverfall in den Büchern bewusst viel zu hoch veranschlagt hatte, um die Bilanz zu schönen. Da etwaige Forderungen gegen die Krankenkassen erfahrungsgemäß erst viel später geltend gemacht werden, wurde so gewissermaßen ein Liquiditätspuffer aufgebaut, der dann wiederum für private Entnahmen der Unternehmensführung genutzt wurde.
Zu diesem Schluss kommt auch Hoos, nachdem er sich mit seinem Team und beauftragten Kanzleien durch bergeweise Abrechnungen gewühlt hat. Zwar wurden mit den Kassen neue Fristen zur Verjährung vereinbart, und für sechsstellige Beträge aus einzelnen Jahren strebt Hoos auch Prozesse an. Doch in vielen Fällen konnten die Kassen eben doch belegen, dass sie pünktlich gezahlt haben.
Weil die Regelungen der 10-Tages-Frist je nach Bundesland und Kostenträger leicht variieren, könnte es sein, dass die bereits attestierte chaotische Buchführung bei AvP es unmöglich gemacht hat, belastbare Angaben zum Rabattverfall zu machen. Doch Hoos erkennt auch, dass eine echte Aufarbeitung der angeblichen Forderungen von AvP vielleicht gar nicht gewünscht gewesen ist. „Stattdessen werden fingierte Erträge aus den behaupteten Rabattverfallforderungen (teilweise unter Fälschung von Belegen) zur ‚Bilanzverschönerung‘ verwendet“, heißt es in seinem Bericht. Bislang hat er keinen Cent von den Kassen gesehen.
Mehr Aussicht auf Erfolg besteht laut Hoos bei möglichen Ansprüchen gegen die Banken. Das Konsortium hatte AvP eine Kreditlinie über 245 Millionen Euro gestrichen und sich so zum Zeitpunkt der Insolvenz schadlos gehalten. Eine von Hoos beauftragte Kanzlei kam nach ihrer Prüfung zu dem Schluss, dass Aussichten auf Ansprüche „wegen unzulässiger Verrechnungen im Kontokorrent“ in Höhe von rund 143,2 Millionen Euro bestehen. Anfang der Woche wurden diese Forderungen außergerichtlich gegenüber den Banken geltend gemacht.
Wenn es keine Einigung mit den Banken gibt – was wahrscheinlich ist – geht die Sache vor Gericht und dann mutmaßlich bis vor den Bundesgerichtshof (BGH). Dieser Aspekt des Insolvenzverfahrens ist durchaus entscheidend, weil die Ansprüche entweder ganz oder gar nicht bestätigt werden können. Es geht also um 143 Millionen Euro in der Masse.
Und es geht immer um die Frage, wie das verfügbare Geld unter den Gläubigern verteilt wird. Denn viele Apotheken haben Aussonderungsrechte geltend gemacht. Sie wollen das Geld für eingereichte Rezepte individuell ausgeschüttet haben. Mit dem Verband der Ersatzkassen sowie sieben AOKen hat Hoos Treuhandvereinbarungen geschlossen, so dass die Gelder bis zur endgültigen Klärung geparkt werden können. Nur die AOK Bayern tanzt aus der Reihe und hat die Gelder bundesweit bei verschiedenen Amtsgerichten hinterlegt. Hoos weiß von 123 solchen Fällen.
Die Frage der Aussonderungsrechte soll in einem oder besser mehreren Musterprozessen für verschiedene Vertragskonstellationen geklärt werden. Die Details der Gruppenbildung werden gerade noch geklärt und die sogenannten Bindungsvereinbarungen konkret ausgearbeitet. Aber noch im ersten Quartal 2022 könnte es mit den Prozessen losgehen. Für 314 Apotheken sowie zahlreiche Krankenhausapotheken konnte das Aussonderungsrecht aufgrund der Verträge bereits bestätigt werden, Hoos hat 942.000 Euro ausgeschüttet.
Ebenfalls geprüft werden Ansprüche gegen Ex-AvP-Chef Mathias Wettstein und den ehemaligen Geschäftsführer Rolf Clemens. Gegen beide ermittelt auch die Staatsanwaltschaft. Hoos muss seine Ansprüche zunächst außergerichtlich geltend machen. Da der Austausch mit den Anwälten der beiden Ex-Manager jedoch bislang nicht zielführend verlaufe, wird Hoos wohl „kurzfristig entsprechende Zahlungsklagen gegen Herrn Wettstein und Herrn Clemens erheben“, kündigt der Insolvenzverwalter an.
Wie viel Geld die betroffenen Apotheken am Ende sehen werden, lässt sich auch mehr als ein Jahr nach der Pleite des Rechenzentrums nicht seriös abschätzen. Für viele Posten hat Hoos im Bericht bislang nur vorsichtig einen „Erinnerungswert“ von einem Euro eingetragen. Die „freie Masse“ im Vermögen von AvP beziffert Hoos auf knapp 11,4 Millionen Euro. Die vielen noch zu klärenden Fragen machen auch eine Aussage über die Quote unmöglich, mit einer schnellen Klärung ist nicht zu rechnen. Das Insolvenzverfahren dürfte nach Hoos Einschätzung frühestens 2024 abgeschlossen sein.
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