Apotheken und Digitalisierung

„Es gibt diese Einzelgeschäfte in Zukunft nicht mehr!“

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Berlin -

Die Digitalisierung wälzt den Apothekenmarkt ganz grundsätzlich um: Keiner weiß heute genau, wie das Berufsprofil von Pharmazeuten in 10 oder 20 Jahren aussehen wird. Wahrscheinlich müssen sich die meisten Apotheker damit abfinden, dass sich ihre Arbeitsaufgaben auf absehbare Zeit grundlegend ändern. Professor Dr. Dr. Dr. Jivka Ovtcharova weiß genau, was das bedeutet. Sie ist eine der renommiertesten Wissenschaftlerinnen und Intellektuellen auf dem Gebiet. Bei der Digitalkonferenz VISION.A von APOTHEKE ADHOC, powered by Noventi gibt sie Einblick, welche Chancen uns Virtual Reality und Künstliche Intelligenz eröffnen – wie sie aber auch unser Arbeitsleben grundlegend verändern werden. Tickets gibt es hier.

Ovtcharova hat einen wahrlich beeindruckenden Lebenslauf: Lehrstuhl, drei Doktortitel, als Frau in zwei Männerdomänen international etablierte Wissenschaftlerin und Vordenkerin. Das Kompliment lacht sie jedoch nur weg. Nein, beeindruckend wolle sie es nicht nennen. „Es gibt halt viele Möglichkeiten – und am Ende wundert man sich, dass es irgendwie geklappt hat“, sagt sie. „Ich hasse auch den Begriff Karriere, ich spreche lieber von Lebensweg.“

Egal ob Karriere oder Lebensweg, Ovtcharova hat es weit gebracht: 1975 begann sie ihr Ingenieurstudium an der Technischen Universität Sofia, wechselte bereits im Jahr darauf ans Moskauer Energetische Institut, wo sie 1982 ihr Diplom ablegte. Eigentlich war sie auf dem Weg zur Nukleartechnikerin – doch dann kam Tschernobyl. Schon als junger Wissenschaftlerin sei ihr seitdem klar gewesen, dass die Atomenergie keine große Zukunft mehr hat. Die gehört den Computern, erkannte sie schon damals. Also sattelte sie um, ihre Reise führte sie ans Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung.

Sie promovierte zweimal, wechselte schließlich aber doch in die Wirtschaft: Ab 1998 war sie als Abteilungsleiterin bei Opel in internationalen Projekten von General Motors eingesetzt. Seit 2003 ist sie Professorin am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), seit 2004 auch Direktorin am Karlsruher Forschungszentrum Informatik (FZI). Und selbst das ist nur ein winziger Abriss ihrer Biographie. Quasi nebenher hat sie auch noch das „Lifecycle Engineering Solutions Center“ (LESC) und das „Industrie 4.0 Collaboration Lab“ gegründet und sich als mehrfach ausgezeichnete Intellektuelle auf Themengebieten rund um die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft etabliert.

Eine ihrer größten Stärken ist dabei der Blick fürs Ganze: Ovtcharova kennt sich mit allen technischen Details Künstlicher Intelligenz (KI) und virtueller Realität (VR) aus – weiß dies aber auch stets in den größeren Kontext gesellschaftlicher Entwicklung einzuordnen, nicht nur in Deutschland, sondern global. „Digitalisierung bedeutet nicht die Nutzung von Computern, sondern vor allem Konnektivität“, ist eine dieser Weisheiten, die sie den Menschen vermittelt. „Aus dem Internet wird das Internet of Things, aus dem Internet of Things wird Industrial Internet. Man spricht schon von einer neuen Generation des Internets, die nicht nur Kommunikation umfasst, sondern Nutzung im industriellen Kontext.“

Und das wird unser gesamtes Wirtschaftsleben noch viel länger und viel tiefgreifender verändern als bisher, ist Ovtcharova überzeugt. Das betrifft nicht nur Dax-Konzerne, sondern auch kleine Betriebe wie Apotheken. „Was ich in Deutschland am meisten kritisiere, ist die fehlende Flexibilität und Bereitschaft für Veränderung. Das ist hochgefährlich. Alle reden davon, dass Digitalisierung wichtig ist, aber niemand will sich verändern“, sagt die 63-Jährige. „Das Leben hier ist bequem, aber man weiß aus der Vergangenheit, dass nichts so bleibt, wie es ist – aber in Deutschland sieht man diese Bereitschaft nicht.“

Statt sich auf Verteilungskämpfe und Besitzstandswahrung zu konzentrieren, müssten die hiesigen Wirtschaftsbranchen wieder lernen, innovativ zu sein – denn der Konkurrenz in den USA und China muss man das nicht erst einbläuen. „Der entscheidende Faktor ist die Zeit. Wer schnell handelt, gewinnt. Wer immer nur Bedingungen stellt, scheitert.“ Doch was heißt das konkret für deutsche Betriebe wie Apotheken? „In Deutschland macht man immer noch den Fehler, dass man sich nur auf die eine Sache konzentriert“, sagt Ovtcharova. „Die Zukunft ist aber, dass man das eigene Portfolio erweitert und andere Stärken ausspielt. Die Apotheken müssen sich öffnen für andere Bereiche und Branchen, beispielsweise für Dienstleistungen“, so ihre Auffassung. „Es gibt diese Einzelgeschäfte in Zukunft nicht mehr!“

Doch für Kleinbetriebe wie Apotheken kann es durchaus schwer sein, sich innovativ zu zeigen, wenn man ohnehin schon am Limit arbeitet und auch die finanziellen Ressourcen gar nicht aufbringen kann. Ist ein kleinteiliger Markt wie der Apothekenmarkt überhaupt innovationsfähig? „Familienbetriebe gibt es auch in anderen Branchen“, sagt Ovtcharova. „Die Größe spielt keine Rolle, sondern die Flexibilität ist entscheidend. Worin zum Beispiel die Amerikaner und Chinesen besonders gut sind, ist, Lücken auf Märkten zu identifizieren.“ Dabei hätten gerade Apotheken so viele Anknüpfungspunkte an andere Branchen und Märkte. Die müssten durch eine bessere Vernetzung mit anderen Geschäften und neuen Wertschöpfungsketten genutzt werden: „Es gibt da unzählige Möglichkeiten“, sagt sie. Das schlimmste sei die „Angst vor unbegründeten Ängsten“.

Apotheken hätten vor allem durch ihren direkten Bezug zum Menschen einen enormen Vorteil, den es auszuspielen gelte. Denn auch wenn es vielen Menschen heute so erscheint, als würde alles durchtechnisiert – eigentlich seien Digitalisierung und Automatisierung Prozesse, die zu einer Rückbesinnung auf den Menschen führen. „Alles, was man heute entwickelt, muss man soweit es geht personalisieren. Menschen müssen individuell behandelt werden, weil sie einzigartig sind.“

Die große Herausforderung ist dabei, dass der Mensch in den technisch-wirtschaftlichen Kreisläufen seinen Platz neu finden muss. Um zu verdeutlichen, dass auch das eigentlich kein neuer Zustand ist und dass sie wirklich weiß, wovon sie redet, verweist sie auf ihre eigene Biographie: Schließlich hätten ihr auch alle Türen in der Atomindustrie offen gestanden, sie aber habe sich für IT entschieden. „Man muss eben bereit sein, Chancen anzunehmen“, sagt sie.

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