AOK verliert Prozess – und feilscht um Retax Alexander Müller, 27.10.2020 10:51 Uhr
Apotheker sollen nach dem Willen der AOK Bayern Arzneimittel an Patienten abgeben, für deren Wirkstoffe die Haltbarkeitsangaben der Hersteller in den Fachinformationen überschritten sind. Verweigert sich die Apotheke, wird sie von der Kasse retaxiert. Weil die AOK zu Recht befürchtet, mit dieser Haltung vor Gericht nicht durchzukommen, bietet sie Apothekern Deals abseits des Gerichtssaals an.
Das Taxieren parenteraler Zubereitungen ist recht kompliziert. Der Apothekenabgabepreis ergibt sich zunächst aus den abrechnungsfähigen Mengen der verwendeten Stoffe. Dazu kommen ein festgelegter Zuschlag – der „Arbeitspreis“ – sowie die Umsatzsteuer. Sogenannte „unvermeidbare Verwürfe“ sind nicht weiterverarbeitungsfähige Teilmengen. Hierzu zählen Anbrüche, deren verbindliche Haltbarkeitsangabe überschritten ist oder die aus rechtlichen Gründen nicht in einer anderen Rezeptur verarbeitet werden dürfen. In den Anlagen zur Hilfstaxe ist die Abrechnung der unvermeidbareren Verwürfe zwischen GKV-Spitzenverband und Deutschem Apothekerverband (DAV) geregelt.
Soweit die Theorie. Doch Apotheker Franz Stadler hat wie andere Kollegen erleben müssen, dass sich nicht alle Kassen an die Regelungen halten: „Die AOK Bayern weigert sich in vielen Fällen, unvermeidliche Verwürfe zu bezahlen, unterstellt längere Haltbarkeiten und retaxiert deshalb die berechtigten Abrechnungen der zubereitenden Apotheken. Kurz: Sie bezahlt diese unvermeidlichen Verwürfe einfach nicht“, so Stadler.
Im Streit um die Haltbarkeiten spielen die Hersteller eine zentrale Rolle. Sie geben in der Fachinformation meist sehr kurze Fristen an, andere Studien legen durchaus längere Haltbarkeiten nahe. Und genau darauf beruft sich die Kasse und retaxiert die Apotheken, wenn diese eine Verwurf abrechnen – ohne sich jedoch auf eine konkrete Haltbarkeit festzulegen, für die dann wiederum die Kasse die Haftung übernehmen müsste. Die Apotheker sind damit in einer Zwickmühle: das wirtschaftliche Risiko einer Retaxation, das juristische Risiko einer Haftung im Schadensfall und der ethischen Verpflichtung einer fachgemäßen Versorgung des – meist schwerkranken – Patienten.
Apotheker wie Stadler wollen sich das aus ihrer Sicht rücksichtslose Verhalten der Kasse nicht gefallen lassen und haben jeweils gegen die Retaxationen geklagt. Das Problem: Solche Fälle werden vor den Sozialgerichten verhandelt und dort dauern Verfahren aufgrund der chronischen Überlastung meist viele Jahre. Ein Kollege von Stadler hat in seinem Streit um Verwürfe schon 2016 Recht bekommen, das Verfahren liegt noch immer beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG).
Stadler hat seinen Prozess in erster Instanz vor dem Sozialgericht München ebenfalls gewonnen. Doch jetzt hat ihm die AOK Bayern nach seiner Aussage einen Vergleich angeboten – natürlich nur telefonisch. Demnach würde die Kasse die Hälfte der retaxierten Beträge erstatten, wenn Stadler seine Klage zurückzieht. Er kennt einen Kollegen, mit dem die Kasse ebenfalls an einem Vergleich arbeitet, dabei sollen in einer zweiten Runde sogar 70 Prozent geboten worden sein. Die AOK hat sich auf Nachfrage nicht zu den Fällen geäußert. Die Kasse bittet um Verständnis, dass man sich zu laufenden Verfahren nicht äußern könne.
Stadler fände es besser, hier endgültige Klarheit zu schaffen, vor allem im Sinne der Patientensicherheit. Und er ist überzeugt, dass das Vorgehen der AOK Bayern System hat, wie er auch in seinem Buch „Medikamenten Monopoly“ ausführt. Dem Thema Verwürfe ist ein eigenes Kapitel gewidmet. „Anders als behauptet geht es der Kasse gar nicht um eine höchstrichterliche Klärung vor dem Bundessozialgericht“, vermutet der Apotheker. Die Sachlage sei nämlich eindeutig. Schließlich seien andere Kassen bei Verwürfen nicht so rigoros und auch die Gerichte hätten der AOK Bayern ihr Vorgehen bislang nicht durchgehen lassen.
Weil die AOK Bayern die retaxierten Beträge einbehalten kann, wächst laut Stadler der finanzielle Druck auf die Apotheken Monat für Monat. Er hat nach eigenen Angaben die Aufsichtsbehörde, in diesem Fall das bayerische Gesundheitsministerium, mehrfach aufgefordert, einzuschreiten. Doch sei er stets auf die laufenden Sozialgerichtsverfahren verwiesen worden. Mit dem angestrebten Vergleich versucht sich die AOK aus Stadlers Sicht freizukaufen. Wahrscheinlich wolle die Kasse verhindern, „dass sie mit einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Änderung ihres offensichtlich falschen Kurses gezwungen wird“, so Stadler. Damit werde aber nicht nur das Vertrauen der Apotheker in den Rechtsstaat erschüttert, sondern – viel schlimmer – auch eine Gefährdung der Patientengesundheit durch mögliche Wirkverluste überlagerter Arzneimittel billigend in Kauf genommen. „Eine saubere, valide Klärung der Haltbarkeitsfrage, die nur über die pharmazeutischen Unternehmen und ihre Angaben in den Fachinformationen erreicht werden kann, wird nicht angestrebt“, kritisiert der Apotheker. Ein ausführliches Video-Interview mit Dr. Franz Stadler finden Sie in unserer Mediathek.