Amazon erwägt eigene Apothekenkette APOTHEKE ADHOC, 28.05.2021 10:50 Uhr
Amazon erwägt US-Medienberichten zufolge, eigene Vor-Ort-Apotheken zu eröffnen. Im Gespräch sei, mit einer Handvoll Filialen zu starten oder Shop-in-Shop-Apotheken in den Supermärkten der 2017 erworbenen Supermarktkette Whole Foods einzurichten. Allerdings lote der Versandhandelsgigant bisher erst die Möglichkeiten aus, ob sich das umsetzen ließe – denn es gibt einige Argumente, die gegen den Schritt sprechen.
Der Marktkapitalisierung von Amazon ist mit 1,6 Billionen US-Dollar mittlerweile fast viermal so hoch wie der gesamte Rx-Markt in den USA. Dennoch scheint der Versandgigant Schwierigkeiten zu haben, seinen Anteil in dem 370 Milliarden Dollar großen Markt auszubauen – denn gerade bei akuten Erkrankungen setzt der weit überwiegende Teil der Patienten trotz der Angebote von Amazon Pharmacy in den USA weiterhin auf schnelle Versorgung in Präsenzapotheken.
So wie Amazon in den vergangenen Jahren mit eigenen Shops und dem Kauf des Lebensmittelhändlers Whole Foods ins Vor-Ort-Geschäft eingestiegen ist, erwägt der Konzern deshalb nun, auch in das Vor-Ort-Apotheken-Geschäft einzusteigen. Im Rx-Versand ist der Konzern bereits seit der Übernahme des Blisterversenders Pillpack im Jahr 2018 vertreten – seit vergangenem Jahr auch unter der Marke Amazon Pharmacy.
Einem Bericht des US-Wirtschaftsmagazins Business Insider zufolge führt der Konzern derzeit Gespräche, um die Möglichkeit eines solchen Schritts auszuloten. So sei diskutiert worden, eigene Apotheken an einer Handvoll Standorte zu eröffnen, darunter Boston und Phoenix. Alternativ stehe Möglichkeit im Raum, Apothekenabteilungen innerhalb der Filialen von Whole Foods zu eröffnen. Gemeint ist damit kein Shop-in-Shop-Modell, wie es Zur Rose in Schweizer Migros-Filialen betreibt, sondern kleine Apotheken samt Personal, wie sie in den USA beispielsweise in den Filialen der Supermarktkette Walmart üblich sind.
Allerdings gebe es noch keine konkreten Pläne, berichtet Business Insider unter Berufung auf drei Amazon-Manager, die mit dem Thema vertraut sind. Es gehe in den Gesprächen vorerst nur darum, solche Szenarien auszuloten. Allein das habe aber schon gereicht, am Tag der Meldung Börsenwerte in Höhe von sechs Milliarden Dollar zu verbrennen: Die Aktien der großen US-Apothekenketten Walgreens und Rite Aid gingen um 4, die von CVS um 3 Prozent nach unten. Amazon selbst wollte die Berichte nicht kommentieren.
Die aktuellen Gespräche seien Teil des Plans, einen größeren Marktanteil im Geschäft mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu erreichen. Vor-Ort-Apotheken würden dabei die Möglichkeit bieten, weitere Patientengruppen anzusprechen, die von allein nicht zum Versandangebot von Amazon Pharmacy wechseln würden. Es sei deshalb wahrscheinlich, dass Amazon versuchen werde, verschiedene Strategien für Vor-Ort-Apotheken zu erproben, so zwei der Quellen gegenüber Business Insider.
Allerdings dürfte sich das aus Sicht von Analysten aus mehreren Gründen schwierig gestalten. Eine eigene Apothekenkette aufzubauen, würde aufgrund der Komplexität des Unterfangens und der rechtlichen Vorgaben voraussichtlich Jahre in Anspruch nehmen und Milliarden Kosten – bei fragwürdigen Erfolgsaussichten. Denn der Vor-Ort-Apothekenmarkt ist in den USA bereits von hohem Wettbewerbsdruck geprägt. Dass sich Amazon gegen Schwergewichte wie CVS, Walgreens und Rite Aid mit ihren etablierten Strukturen behaupten kann, wäre keineswegs ausgemacht.
Auch die Option, an die Whole-Foods-Filialen anzudocken, wäre alles andere als trivial. Auch dort wären massive Investitionen bei fragwürdigen Erfolgsaussichten notwendig, zitiert Business Insider Analysten des Investmentbanking-Beratungsunternehmens Evercore ISI. Demnach wären pro Standort mindestens drei angestellte Apotheker und fünf PTA notwendig, um eine ähnliche Servicequalität wie die großen Apothekenketten gewährleisten zu können. Im Ergebnis seien pro Standort mindestens 200 Rezepte am Tag notwendig, um zumindest kostendeckend zu arbeiten. Uns selbst dann bestünde noch ein erhebliches Problem: Es gibt nach wie vor lediglich 350 Whole-Foods-Filialen in den USA. Von der Abdeckung der großen Apothekenketten wäre Amazon damit noch meilenweit entfernt. Allein CVS und Walgreens haben jeweils über 9000 Filialen.
Die Berichte über Erwägungen zu einer eigenen Apothekenkette in den USA sind durchaus plausibel: Amazon ist in den vergangenen Jahren strategisch vorgegangen und hat sich Schritt für Schritt in den komplexen US-Gesundheitsmarkt vorgearbeitet. Dabei plant der Konzern offensichtlich, nicht ein einzelnes Segment mit einem Ruck zu kapern, sondern sich stückweise in einzelnen Segmenten aufzustellen und die zu integrieren.
Die Übernahme von Pillpack stellte damit den Eintritt in den Versand von Rx-Arzneimitteln dar, der mit dem Launch von Amazon Pahrmacy vergangenes Jahr vollendet wurde. Die Marke hat sich Amazon in mehreren Ländern sichern lassen, mit Indien hat der Konzern gar bereits versucht, auch außerhalb der USA in den Rx-Versand einzusteigen. Parallel arbeitet sich Amazon auch in den privaten US-Versicherungsmarkt vor, im September 2018 brachte das Unternehmen mit Amazon Care am Standort Seattle ein eigenes Programm an den Start, das auch die Klinikversorgung umfasst. 2019 wurde im Rahmen eines Gerichtsprozesses bekannt, dass Amazon auch versucht, Expertise im Bereich der sogenannten Pharmacy Benefit Manager aufzubauen. Die vermitteln in den USA Rabattverträge zwischen Herstellern, Großhandel und Versicherungen. Amazon hatte dazu unter anderem John Lavin rekrutiert, einen vormaligen Spitzenmanager von CVS. Die Apothekenkette konnte das gerichtlich untersagen lassen, da der Postenwechsel stelle eine erhebliche Gefahr darstelle. Lavin werde seine internen Kenntnisse nutzen, um das Geschäftsmodell von CVS Caremark zu zerstören. Dazu brachte CVS vor Gericht auch konkrete Informationen vor, wonach Amazon bereits Rabattverhandlungen mit einem Krankenversicherungsverbund führte, bei dem zusammen rund 100 Millionen Amerikaner – fast ein Drittel der Bevölkerung – versichert sind.
Wiederum parallel dazu arbeitet Amazon auch an der Digitalfront weiter daran, verschiedene Angebote zu integrieren, die von KI-basierten Beratungsskills seiner Sprachbox Alexa bis hin zur Telemedizin reichen. Ende 2019 hat der Konzern das Start-up Health Navigator gekauft, das auf Schnittstellen im Gesundheitswesen spezialisiert ist, speziell darauf, telemedizinische Plattformen und andere Anwendungen zu standardisieren und integrieren. Es soll dafür sorgen, dass Telemedizin, Online-Apotheke und Krankenversicherung reibungslos Hand in Hand arbeiten.