Amazon: 200% Apotheke Patrick Hollstein, 29.06.2018 10:43 Uhr
Jetzt ist Amazon also da. Mit PillPack steigt der Internetgigant ins Apothekengeschäft ein. Noch ist die Gefahr weit weg; der US-Markt funktioniert komplett anders und war noch nie mit Deutschland zu vergleichen, hört man hier und da. Doch spätestens jetzt sollte jedem klar sein: Amazon will nicht 100, sondern 200 Prozent Apotheke sein. Und es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis der Konzern auch hierzulande mit voller Wucht aufschlägt.
„1492“ lautete intern der Codename für den Einstieg von Amazon in den Apothekenmarkt. Die Anlehnung an die Entdeckung Amerikas zeigt, dass es für den Konzern nie nur um den Verkauf von Kosmetik oder OTC-Produkten ging. In Seattle hat man sich zum Ziel gesetzt, die gesamte Gesundheitsversorgung zu digitalisieren. Eine neue Welt soll entdeckt und erobert werden.
PillPack ist eines jener typischen Internet-Start-ups, die das System nicht neu erfunden, aber die richtigen Bausteine an der richtigen Stelle miteinander verknüpft haben. Wenn man sieht, wie sich die Verblisterung hierzulande entwickelt hat, muss man sich keine Sorgen machen, könnte man meinen. Immerhin hat PillPack auch nur ein paar Maschinen von JVM und Rowa in seinen Blisterzentren stehen und lässt seine Mitarbeiter ansonsten viel von Hand konfektionieren. Da war Kohl mit seinem Projekt 7x4 schon vor Jahren deutlich weiter, das am Ende aber vom System in die Knie gezwungen und zum Millionengrab wurde.
Auch die Art und Weise, wie Patienten bei PillPack an ihre Medikamente kommen, entspricht ungefähr dem, was hierzulande gerade mit verschiedenen Bestell-Apps erprobt wird. Auch hier gab es Pioniere, die ihrer Zeit voraus waren und deshalb gescheitert sind. Warum also sollte Amazon jetzt erfolgreicher sein?
Weil es Amazon ist. Nicht nur, dass der Konzern von Hause aus über die Reichweite verfügt, die Linda 24/7, Curacado, Medikamente Now und wie sie alle heißen noch fehlt. Über das stringente Management eines Weltkonzerns, bei dem 20.000 Apotheken in ihrer Kakophonie nicht mithalten können. Über die logistische Infrastruktur, die sich hierzulande wohl bestenfalls mit Hilfe des Großhandels auf die Beine stellen lässt.
Es ist vor allem der Zugang zum Kapital, der es Amazon ermöglicht, sich den Weg einfach frei zu kaufen. Bei PillPack stach Konzernchef Jeff Bezos am Ende selbst milliardenschwere Handelsketten wie CVS und Wal-Mart aus. Nicht umsonst gab Stefano Pessina, Chef des weltgrößten Apothekenkonzerns Walgreens Boots Alliance (WBA), gestern zu Protokoll, dass Übernahmen für ihn nur Sinn machen, wenn sie sich auch rechnen. Sprich: Wenn er sie sich auch leisten kann.
Solche Sorgen hat Amazon nicht. Der Konzern ist gemessen an der Marktkapitalisierung das zweitwertvollste Unternehmen der Welt. Experten gehen davon aus, dass der Internetriese demnächst sogar Apple an der Spitze ablösen wird. Wenn Bezos also knapp eine Milliarde Dollar für ein Unternehmen auf den Tisch legt, das fünf Jahre nach der Gründung noch in den Kinderschuhen steckt – wer soll da noch mithalten?
Doch vor allem im laufenden Betrieb kann Amazon aus dem Vollen schöpfen. Mit Prime hat der Konzern das Thema Versandkosten aus der Welt geräumt und damit eine entscheidende Hürde im Kopf der Verbraucher niedergerissen: Wer als Kunde 69 Euro für ein Abo bezahlt, der will den Betrag auch ausschöpfen. Der bestellt ein Produkt nicht mehr auf Vorrat, sondern dann, wann er es braucht. Und der bestellt dann eben auch alles beim selben Anbieter. Nicht anders funktionieren Kooperativen, bei denen man als Kunde Mitglied ist und am Jahresende von seinen eigenen Einkäufen profitiert. Nur dass es hier eben ein Weltkonzern ist, der manchen Menschen mittlerweile näher steht als der Händler um die Ecke.
Für den Imagewandel – weg vom anonymen Versandhändler, auf den man einige Tage warten muss, hin zum fürsorglichen Expresslieferanten für Dinge des täglichen Bedarfs – kann Amazon auch ohne Ende Geld verbrennen. Denn die Logistikkosten von heute sind eine Investition in die Abhängigkeiten von morgen. Bis die ersten Drohnen das Paket für Centbeträge ausliefern, werden eben Aushilfskräfte mit Lieferwagen eingespannt. Seit Neuestem können private Fahrer auf Stundenbasis anheuern – Uber für Amazon sozusagen.
Am Ende träumt man in Seattle von treuen Kunden, die – ohne einen Gedanken an Alternativen zu verschwenden – ihren gesamten Hausrat via Abo oder Dash-Button bestellen. Arzneimittel gehören zwangsläufig dazu – und es ist auch ein Teil der Wahrheit, dass kranke Menschen mitunter dankbar für jeden gesparten Weg sind. Und dass es Verbraucher gibt, denen ein Kontakt von Angesicht zu Angesicht nicht wichtig ist.
Mit PillPack könnte Amazon in den USA eine erste Marktlücke gefunden haben. Denn tagtäglich müssen Millionen Verbraucher in ihrem Drugstore warten, bis ihre Medikamente abgefüllt sind. Pessina räumte selbst ein, dass die Apotheken besser werden müssen und dass sein Konzern bereits an ähnlichen Konzepten arbeitet. Doch auch hier hat Amazon vorgesorgt – und ein Pilotprojekt für eine eigene Krankenversicherung gestartet. Zuweisung funktioniert über Amazon vermutlich besser als über jede andere Plattform. Wenn dann auch noch der Service stimmt, kommt keiner am Angebot vorbei.
Dass der deutsche Markt aufgrund seiner Regularien solchen Gedankenspielen derzeit noch nicht zugänglich ist, sollte niemanden in falscher Gewissheit wiegen. Zumindest solche Vorschriften, die dem E-Rezept im Weg stehen, werden schnell abgeräumt. Dann könnte dank Amazon recht schnell das Thema Verblisterung wieder auf die Tagesordnung kommen. Und dann wird es nicht lange dauern, bis Grundsatzfragen gestellt werden. Amazon wird rechtzeitig zur Stelle sein.
Solange Bequemlichkeit das Maß der Dinge ist, wird der Siegeszug von Amazon weitergehen, wird der Konzern weitere Branchen überrollen. Wer glaubt, dass nur US-Bürger anfällig dafür sind, sich über ihre Arzneimittel „keine Gedanken“ mehr machen zu müssen, der schätzt den deutschen Verbraucher falsch ein. Das Einzige, was den Steueroptimierer, Arbeitsplatzvernichter und Innenstadtzerstörer Amazon stoppen könnte, wäre eine Umdenken, eine Besinnung auf andere Werte, ein gesellschaftlicher Wandel. Aber die, da braucht man sich wohl keine Illusionen zu machen, fängt sicher nicht bei Apotheken an.