Die Apotheker sitzen in der Falle: Zigtausend Artikel sind in ihrem EDV-System gelistet, das alle zwei Wochen aktualisiert wird. Gibt es bei einem Produkt einen Fehler, etwa in der Kennzeichnung, geraten die Apotheker zwischen die Fronten. Abmahnungen sind mittlerweile zum Geschäft geworden. Doch die Firma Veniapharm hat es mit dem schnell verdienten Geld, vorgeschickten Testkäufern und stornierten Umsätzen anscheinend übertrieben.
Die Abmahntätigkeit der Firma steht nach Überzeugung des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG) „in keinem vernünftigen wirtschaftlichen Verhältnis zu ihrer gewerblichen Tätigkeit“. Allein in den Jahren 2013 und 2014 habe Veniapharm mindestens 160 Abmahnungen aussprechen lassen. In dem verhandelten Fall gegen einen Apotheker aus Düsseldorf, bei dem zuvor das Produkt „Migra 3“ des Herstellers Doppler Health bestellt worden war.
Veniapharm wurde am 28. Mai 2013 gegründet. Bis Dezember wurden ein Umsatz von 303.556 Euro sowie Rechts- und Gerichtskosten von 142.856 Euro ausgewiesen. „Kein anständiger Kaufmann würde ohne zwingenden Grund Rechts- und Gerichtskosten produzieren, die mehr als die Hälfte des zu schützenden Umsatzes ausmachen“, befand das Gericht.
Und selbst diese Rechnung war noch geschönt angesichts der tatsächlichen Verhältnisse. In einem anderen Prozess musste Veniapharm-Geschäftsführer Lutz Kortmann eingestehen, dass die im Umsatz für das Jahr 2013 berücksichtigten – und von ihm eidesstattlich versicherten – Großrechnungen storniert wurden. Der Gesamtwert der drei Rechnungen von zwei Tagen im Juli 2013 beläuft sich auf knapp 302.000 Euro. Damit blieben als Umsatz noch etwa 1500 Euro übrig. Ein Teil davon entfiel übrigens auf Gegentestkäufe abgemahnter Apotheker.
Die Richter am OLG fühlten sich vom Hersteller an der Nase herumgeführt: Schwerer als das krasse Missverhältnis zwischen Umsatz und Abmahntätigkeit wog der Umstand, dass Veniapharm noch im Termin vor dem Landgericht Düsseldorf (LG) am 28. Oktober 2014 ein aktuelles Schreiben des Steuerberaters vorgelegt hatte, um die vermeintlichen Umsätze zu beweisen.
Selbst wenn Veniapharm zum Zeitpunkt der Abmahnung noch von einem sechsstelligen Umsatz für 2013 ausgehen konnte, war das beim Gerichtstermin definitiv nicht mehr der Fall. Dieser Versuch, Gegner und Gericht zu täuschen, lasse den Rückschluss zu, worum es Veniapharm eigentliche gehe, befand das Gericht. Nämlich um die Gewinne aus einer verselbstständigten Abmahntätigkeit.
Veniapharm hatte zur Begründung der Massenabmahnung gegenüber Apotheken in verschiedenen Fällen vorgetragen, abgemahnte Hersteller könnten ansonsten die betroffene Ware noch schnell in den Großhandel verschieben. Das Gericht hielt dies für vorgeschoben. Großhändler hätten normalerweise kein Interesse, massenhaft Ware zu kaufen, auf der sie am Ende sitzen blieben. „Wer sich als im Aufbau befindliches Unternehmen nicht auf die Hersteller beschränkt, sondern ziellos beliebige Apotheker in Anspruch nimmt, die die Ware lediglich aufgrund seines Auftrags ordern, zeigt, dass es ihm in Wirklichkeit vor allem auf die Generierung von Aufwendungsumsatz und Rechtsverfolgungskosten ankommt“, so das OLG.
Das LG hatte Veniapharm in erster Instanz noch recht gegeben. Dem Apotheker wurde verboten, Migra 3 in der angegriffenen Form zu bewerben oder zu vertreiben. Das Gericht erkannte den mutmaßlichen Verstoß gegen die Diätverordnung an. Der Apotheker sei für den Verstoß des Herstellers Doppler Health verantwortlich, da er das Produkt selbst in Verkehr bringe. Den Gegenstandswert hatte das LG allerdings schon von 30.000 auf 1000 Euro reduziert.
Der Apotheker hatte schon bezweifelt, dass es sich bei Veniapharm um einen echten Konkurrenten handele – ein Onlineshop reiche als Beweis dafür jedenfalls nicht aus. Auch er vermutete andere Interessen hinter der Abmahnung – von der er sich im Übrigen gar nicht angesprochen fühlte: Laut der EU-Lebensmittelinformationsverordnung sei nämlich der Hersteller eines Lebensmittels in der Pflicht, nicht der vertreibende Apotheker.
Tatsächlich ist der Apotheker laut OLG-Urteil seit dem 13. Dezember 2014 nicht mehr Adressat für derlei Abmahnungen. Laut der EU-Verordnung ist der Hersteller verantwortlich, ein nachgelagerter Händler nur, wenn er wissentlich ein unzulässiges Präparat verkauft. Das sei in diesem Fall aber nicht ersichtlich, so das OLG. „Von einem Apotheker kann eine Kenntnis zur Wirksamkeit aller erhältlichen – also auch der nicht zu seinem normalen Sortiment gehörenden – diätetischen Lebensmittel nicht erwartet werden“, heißt es im Urteil.
Der Verkauf der Packung in der Apotheke wurde in diesem Fall aber erst provoziert. Solche Testkäufe sind unzulässig, wenn für den später kritisierten Verstoß vorher keine Anhaltspunkte vorlagen und der Händler nur hereingelegt wird, um ihn später verklagen zu können. Das Verhalten von Veniapharm stelle sich „allein schon aufgrund der Umstände des Testkaufs als rechtsmissbräuchlich dar“, so das OLG.
Aber das war die Masche – und sie hatte schon öfter funktioniert: Gegen den Hersteller Dr. Gehring ging Veniapharm 2013 wegen der Marke Eucell vor, ebenso gegen Weber & Weber wegen Produkten der Reihe „Orthoexpert“. Im Oktober des gleichen Jahres folgte die Abmahnung gegen Doppler Health. Die Produkte wurden regelmäßig extra in den Apotheken bestellt. Auf den Verkauf folgte die Abmahnungen gegen Hersteller und Apotheken, manchmal auch gegen Großhändler.
Die geforderten Abmahnkosten summierten sich schon in wenigen Monaten auf einen hohen fünfstelligen Betrag – und das sind nur die bekannten Fälle. Das Prozesskostenrisiko, dem sich Kortmann aussetzte, war entsprechend um ein Vielfaches höher. Beide Punkte – Abmahnkosten und Prozesskostenrisiko – gelten als Indizien für einen Rechtsmissbrauch. Dabei ist das Verhältnis zu den sonstigen Umsätzen des Abmahners ein wichtiger Anhaltspunkt – weshalb die stornierten Rechnungen wohl auch geflissentlich verschwiegen wurden.
Das OLG München hatte in einem Verfahren gegen eine andere Apotheke nachgefragt und Beweise gefordert. Die Geschichte mit den Großkunden entpuppte sich als Luftnummer. Die vermeintlichen Geschäfte waren offenbar nur auf dem Papier getätigt worden, um ein Wettbewerbsverhältnis zu konstruieren. Veniapharm verlor den Prozess.
Das Konstrukt war aber nicht von Anfang an bekannt. Die Hersteller ließen sich dadurch teilweise unter Druck setzen: Sowohl Dr. Gering als auch Weber & Weber sollen mit Veniapharm jeweils einen Vergleich geschlossen haben. Doppler Health ging der Sache auf den Grund und hat für die Gerichte viele wertvolle Informationen über Veniapharm zusammengetragen.
Die Firma residiert formal im bayerischen Grünwald. Doch an der angegebenen Adresse befindet sich lediglich ein Office Center, Büroräume ab 1m² Fläche werden dort vermietet. Etwa 30 Firmen sollen sich einen Briefkasten teilen, die Büroräume tatsächlich nur „virtuell“ sein und die Mieter ohne eigenen Schlüssel. Telefonisch ist Veniapharm nicht zu erreichen, im Impressum ist nur die Mobilnummer Kortmanns hinterlegt, die aber regelmäßig unbeantwortet bleibt. So auch in diesem Fall.
Einer der wenigen Mitarbeiter von Veniapharm ist der Testkäufer Timo Z., der aber wahlweise als Timo H., Timo S. oder Timo F. auftrat. Allein im ersten Geschäftsjahr von Veniapharm führte er fast 100 Testkäufe durch. Dafür soll er jeweils 20 Euro bekommen haben. Z. gibt als Tätigkeit unter anderem „strategischer Einkäufer“ an und ist nach eigenen Angaben immer noch für die Firma „VP“ tätig sowie für das Goethe Institut.
Kortmann selbst hat vor Gericht ausgesagt, dass er die Firmenanschrift für seinen Postverkehr nutze und ansonsten für seine Arbeit im Wesentlichen Laptop und seine Kontakte benötige. Seit Juni 2013 will er außerdem ein Lager von 500 m² Fläche für monatlich 1000 Euro gemietet haben – wobei sich das nicht mit den angegebenen Raumkosten in den Büchern deckt. Später gab er Lagerflächen bei der Firma Alpenland an, die früher ihm gehörte und seit 2010 von seiner Schwester geführt wird.
Auch das Sortiment erinnert stark an frühere Produkte von Alpenland. Zudem sind acht von zehn Präparaten von Veniapharm in der Zusammensetzung absolut identisch. Sie werden aber unter verschiedenen Namen vermarktet, die jeweils eine Entsprechung im Markt haben. Auch hier darf die Konstruktion eines Wettbewerbsverhältnisses vermutet werden – zumal die eigenen Produkte durch extrem hohe Preise für Verbraucher nicht besonders verlockend sein dürften.
Die dietätischen Lebensmittel wurden gelistet und zumindest teilweise auch vertrieben, etwa über die Versandapotheke Sanicare. Diese stellte die Zusammenarbeit mit Veniapharm am 1. Juli 2015 jedoch ein – wegen der Abmahntätigkeit des Herstellers. Die Umsätze waren auch zuvor über diesen Kanal marginal. Um ein vielfaches höher waren die Ausgaben für die Werbung in den Anzeigeblättchen der Versandapotheke. Diese konnte Veniapharm bei Gericht wiederum als Belege reger Geschäftstätigkeit vorlegen.
Dabei sollte eine weitere Firma helfen: Etwa ein halbes Jahr nach Gründung von Veniapharm, im November 2013, stampfte Kortmann ein weiteres Unternehmen aus dem Boden: die DLS Vertriebs GmbH. Die Firmenbeschreibung im Handelsregister stimmt fast zu 100 Prozent mit der von Veniapharm überein. Geschäftsführer ist jeweils Kortmann. Über DLS wurden wiederum Rechnungen an Veniapharm gestellt.
Doch jetzt ist das Konzept aus Testkäufen und strategischen Abmahnungen aufgeflogen und Veniapharm bereits mehrfach wegen rechtsmissbräuchlicher Abmahnungen bei Gericht abgeblitzt. Das lässt Apotheker hoffen, die sich noch im Rechtsstreit mit Kortmann befinden. Und davon gibt es etliche: Beim OLG Düsseldorf liegen mindestens noch vier weitere Verfahren, die kaum anders ausgehen dürften. Beim LG München liegen vier Verfahren, noch einmal zwei sind schon beim OLG München – das auch schon gegen Veniapharm entschieden hat – und zwei weitere Verfahren vor dem OLG Frankfurt. Die Karten des Apothekenjägers standen schon einmal besser.
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