Die Umwandlung in eine europäische Aktiengesellschaft war für Noventi nur der erste Schritt in Richtung Kapitalmarkt. Jetzt sammelt das apothekereigene Rechenzentrum auch aktiv Geld ein. Über Genussscheine sollen bis zu 80 Millionen Euro in die Kasse kommen. Die Unterlagen zeigen die Schwachstellen – und wie groß der Finanzierungsbedarf ist.
Noventi sieht sich selbst als einen führenden Anbieter von Software, Finanzdienstleistungen und digitalen Plattformen im europäischen Gesundheitsmarkt. Immerhin werden pro Jahr rund 200 Millionen Rezepte im Wert von 25 Milliarden Euro abgerechnet. 2019 wurde das Transformationsprogramm „Noventi 2022“ gestartet, mit dem das traditionelle Kerngeschäft der Abrechnung von Papierrezepten erweitert und umgestellt werden soll. Zwar muss das Projekt um ein Jahr verlängert werden, doch nach eigenen Angaben ist Noventi in den vergangenen Jahren erfolgreich gewachsen und hat zahlreiche neue Geschäftsfelder erschlossen: Durch strategische Beteiligungen und Ausweitungen des Kerngeschäfts seien die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft gestellt worden.
Allerdings haben die Initiativen – von Kampfpreisen am Markt, der Übernahme des Geschäftsfelds Klinikapotheken vom mittlerweile insolventen Wettbewerber AvP über Projekte wie Gesund.de, den Einstieg bei Doctorbox oder dem Digital Health Fonds sowie die Kooperation mit Zava und GoSpring bis hin zu den umfangreichen Werbe- und Sponsoringaktivitäten – ihren Preis. Zwar hat Noventi im Jahr 2020 einen Konzerngewinn von 1,7 Millionen Euro erzielt, nach einem Verlust von 1,6 Millionen Euro im Vorjahr. Gleichzeitig sind aber die Nettofinanzverbindlichkeiten, also die Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten abzüglich Kassenbestand und Guthaben, von 22 auf 81 Millionen Euro regelrecht explodiert. Im ersten Halbjahr 2021 sind sie sogar noch weiter gestiegen auf 93 Millionen Euro – während der Überschuss bei einem Umsatz von 120 Millionen Euro nur auf 3,1 Millionen Euro zulegte. Laut Bilanz stehen einem Eigenkapital von 80 Millionen Euro insgesamt Verbindlichkeiten von 140 Millionen Euro gegenüber, 115 Millionen Euro davon gegenüber Kreditinstituten.
All dies betrifft alleine die Unternehmensgruppe: Die Abrechnungsgelder von rund 1,05 Milliarden Euro werden separat als Treuhandvermögen und -verbindlichkeiten ausgewiesen. Doch auch hier könnten neue Probleme auf Noventi zukommen: Weil das klassische Abrechnungsgeschäft spätestens mit dem E-Rezept an Bedeutung verliert, fokussiert das Rechenzentrum sein Factoring-Geschäft, um so den Kunden Liquidität zu verschaffen und sie gleichzeitig an sich zu binden. Finanziert wird das Ganze über Kreditlinien eines Bankenkonsortiums – und bislang kalkuliert Noventi mit stabilen Refinanzierungskosten. Steigende Zinsen würden das Unternehmen doppelt treffen, denn ab sofort soll das Factoring-Geschäft erstmals mit Forderungen und Verbindlichkeiten in die Bilanz integriert werden. Dadurch bleibt zwar die Gewinn- und Verlustrechnung unverändert, jedoch erhöht sich die Bilanzsumme und verringert sich die Eigenkapitalquote.
Um Geld zu besorgen, haben sich der Vorstand um CEO Dr. Hermann Sommer sowie der Aufsichtsrat um den ehemaligen Apobank-Chef Herbert Pfennig vom Eigentümerverein FSA als Alleinaktionär dazu ermächtigen lassen, Genussscheine in Höhe von bis zu 80 Millionen Euro in mehreren Tranchen auszugeben. Noventi räumt die Notwendigkeit auch ein: Grund für das Angebot sei der „Finanzierungsbedarf“, heißt es. Das Geld soll zur Stärkung der Eigenkapitalbasis, zur teilweisen Weiterleitung als zusätzliches Eigenkapital an Tochtergesellschaften sowie zum weiteren organischen oder anorganischen Wachstums verwendet werden.
Während das Unternehmen dadurch neue Finanzstärke gewinnen soll, wird den Investoren eine „attraktive Partizipationsmöglichkeit am Erfolg von Noventi“ versprochen: Die Genusscheine haben einen Nennwert von 1000 Euro und berechtigen zur prozentualen Teilnahme an Gewinnausschüttungen. Der Basissatz liegt für die erste Tranche bei 4 Prozent, erwirtschaftet Noventi mehr als 15 beziehungsweise 20 Millionen Euro Gewinn, gibt es jeweils einen Prozentpunkt mehr.
Das ist zwar weniger, als die Genossenschaften ihren Mitgliedern spendieren, aber für den Kapitalmarkt vergleichsweise viel Geld. Zum Vergleich: Der DocMorris-Mutterkonzern Zur Rose zahlt für seine Anleihen derzeit 2,5 Prozent. Und: Sollte es zu einem Bilanzverlust kommen, werden auch die Genussscheine herangezogen – im schlimmsten Fall vermindert sich der Rückzahlungsbetrag auf Null. Die Laufzeit liegt bei zehn Jahren, eine vorzeitige Kündigung ist nicht möglich. Die Finanzaufsicht BaFin hat das Vorhaben bereits gebilligt.
„Mit dem Angebot der Genussscheine legen wir einen weiteren wichtigen Baustein für unser Wachstum und den Ausbau unserer Marktführerschaft“, so Sommer. „Wir freuen uns sehr, mit den verschiedenen Serien den Mitgliedern des FSA, unseren Kunden und unseren Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, maßgeblich an dem Erfolg von Noventi beteiligt zu sein.“
Finanzvorstand Victor J. Castro ergänzt: „Die Ausgabe von Genussscheinen ist ein wichtiger Schritt für Noventi. Dadurch können wir neben der einmaligen Erfolgsbeteiligung der Zeichnungsberechtigten auch strategische Investitionen vorantreiben und unsere Transformation zu einem 360°-Anbieter für den Gesundheitsmarkt weiter forcieren.“
Am Status als apothekereigenes Unternehmen soll sich dadurch nichts ändern: Diese Beteiligungsoption ist laut Noventi auf wenige Berechtigtengruppen limitiert: Zunächst können die rund 4000 Mitglieder des FSA Genussscheine in einem Gesamtvolumen von bis zu 40 Millionen Euro zeichnen. Zu einem späteren Zeitpunkt soll auch allen Kundinnen und Kunden sowie den Mitarbeitenden eine Beteiligung angeboten werden. Auch „branchennahe institutionelle Investoren“ sollen bei Noventi investieren können.
Die Genusscheine können allerdings auch gehandelt werden. Zwar sind hierbei unter Umständen entsprechende Vorgaben zu beachten. „Die Zeichnungsscheine über den ersten Erwerb der Genussscheine können vertragliche Übertragungsbeschränkungen vorsehen“, heißt es dazu. Diese können etwa eine Verpflichtung beinhalten, die Genussscheine ausschließlich an Mitglieder des FSA oder Kunden beziehungsweise Mitarbeiter der Noventi-Gruppe zu veräußern.
Darüber hinaus wird es jedoch schwammig: Beim Weiterverkauf haben Inhaber „darauf hinzuwirken, dass der zukünftige Erwerber seinerseits die Genussscheine nur an die genannten Personen weiter veräußern oder übertragen wird“ beziehungsweise „nicht auf die Zulassung oder Einbeziehung der Genussscheine zum Handel an der Börse oder einem anderen Handelsplatz hinzuwirken“.
Immerhin: Anders als bei anderen ehemaligen Genossenschaften werden keine externen Investoren an Bord geholt – die Stada als ursprünglich apotheker- und ärzteeigenes Unternehmen kam am Ende über die Börse in die Hand von Finanzinvestoren. Die Genussscheine bei Noventi haben dagegen eine feste Laufzeit, gewähren keine Stimmrechte und können – anders als Vorzugsaktien – bei ausbleibender Dividende auch nicht in Aktien umgewandelt werden. Es ist noch nicht einmal gesagt, dass überhaupt ein Handel mit den Papieren in Schwung kommt. Und trotzdem ist nicht zu übersehen, dass Noventi sich in Richtung Kapitalmarkt orientiert.
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