17 Milliarden Euro Defizit: Nächste Sparrunde ohne Apotheken Lothar Klein, 10.11.2020 10:55 Uhr
Die Krankenkassen schlagen Alarm: Am Ende dieser Wahlperiode stehen sie nach Rechnung des AOK-Bundesverbandes vor dem größten Defizit aller Zeiten – 17 Milliarden Euro werden demnach fehlen. Dabei sind die Kosten für die anstehende Corona-Massenimpfung noch nicht einbezogen. 2022 stehen eine neue Sparrunde und kräftige Beitragserhöhungen an. Auch die Gesundheitspolitiker machen sich bereits Gedanken darüber, wo der Rotstift angesetzt werden kann.
Bei den Gesundheitspolitikern der Union kursieren bereits Überlegungen, bei welchen Kassenleistungen 2022 der Rotstift angesetzt werden könnte. Die gute Nachricht: Die Apotheken sollen bei der nächsten Sparrunde außen vorbleiben. Die Apotheken benötigten nach dem gerade erst verabschiedeten Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) eine Phase der Ruhe, heißt es. Stattdessen werden voraussichtlich die Arzneimittelausgaben und der Krankenhausbereich ins Zentrum der Sparpolitik rücken.
Der AOK-Bundesverband fordert eine vollständige oder zumindest deutlich höhere Beteiligung des Bundes bei der Refinanzierung vorhergesagten Finanzlücke von mehr als 16 Milliarden Euro. „Der für das kommende Jahr verabredete Bundeszuschuss von rund fünf Milliarden Euro reicht bei weitem nicht aus, um die von der Bundesregierung gegebene Sozialgarantie einzuhalten“, betonte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Jens Martin Hoyer. „Die Koalition will das Milliardenloch zu mehr als zwei Dritteln mit dem Geld der Beitragszahler stopfen, indem die Krankenkassen geschröpft werden und der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz erhöht wird“, kritisierte Hoyer kurz vor der Sachverständigenanhörung zum geplanten Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) im Bundestag.
Dabei sei aber schon die Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitrags für 2021 voraussichtlich zu niedrig angesetzt und allein dies setze die Krankenkassen im kommenden Jahr unter finanziellen Druck, so Hoyer weiter. Zusätzlich zwinge die Bundesregierung die Krankenkassen, im Wahljahr 2021 einen Großteil ihrer Rücklagen zu verfeuern, ohne die Auswirkungen des bereits im Versichertenentlastungsgesetz (GKV-VEG) angeordneten dreijährigen Rücklagenabbaus zu berücksichtigen. „Schon ab 2020 müssen Kassen ihre Rücklagen über nicht ausgabendeckende Zusatzbeiträge stufenweise abbauen. Laut GPVG-Entwurf wird der Zugriff auf die Reserven noch deutlich forciert. Gleichzeitig bleibt der Zusatzbeitrag der einzelnen Krankenkassen gedeckelt, obwohl die Ausgaben nach übereinstimmenden Berechnungen von Bundesgesundheitsministerium und Kassen massiv steigen“, so Hoyer. Finanziell gesunde Kassen würden dadurch doppelt und dreifach gebeutelt. „Unter diesen Rahmenbedingungen können auch bislang gesunde Kassen in ganz schwieriges Fahrwasser geraten“, warnte der Vorstandsvize.
Um den Krankenkassen finanziellen Handlungsspielraum zu lassen, fordert der AOK-Bundesverband das ersatzlose Streichen des Verbots zum Anheben des Zusatzbeitrags. Andernfalls müsse es den Kassen zumindest erlaubt bleiben, Reserven bis zu einer Obergrenze von einer Monatsgrenze vorzuhalten. Auch müsse dann der Rücklagenabbau in voller Höhe angerechnet werden. Die Bundesregierung wolle zudem die tatsächlichen GKV-Vermögensverhältnisse durch Detailregelungen im GPVG-Entwurf verschleiern, monierte Hoyer.
Die Krankenkassen müssten bei Rechnungslegung und Haushaltsplanung so tun, als würden die bereits abgeschöpften Rücklagen 2021 noch zur Verfügung stehen. Tatsächlich aber würden die Mittel dem Zugriff der Kassen bereits mit dem noch in diesem Jahr geplanten Inkrafttreten des GPVG entzogen. „Die Rücklagen sind weg, es wird aber unterbunden, dass der Zwangsabbau zur Finanzierung der Deckungslücke 2021 noch in diesem Jahr als Verpflichtung verbucht wird“, so der AOK-Vorstand. „Statt solcher Tricksereien brauchen wir jetzt klare Vorgaben, dass nur die tatsächlich noch verfügbaren Rücklagen bereits in der Rechnungslegung für 2020 transparent ausgewiesen werden.“
Hoyer erinnerte zudem daran, dass insbesondere die AOKen bereits durch die Regelungen im Gesetz für einen fairen Krankenkassenwettbewerb (GKV-FKG) massiv unter finanziellem Druck stünden. Die Krankenkassen müssten in die Lage versetzt werden, durch eine Anhebung des Zusatzbeitrages zum 1. Januar 2021 die Wirkungen der vielen Spahn-Gesetze abzufangen. „Die Kassen sind insolvenzfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts und die im GPVG geplanten Regelungen können wie eine staatlich angeordnete Insolvenzverschleppung wirken“, kritisiert der stellvertretende Verbandschef.
Insgesamt sieht Hoyer die GKV vor erheblichen finanziellen Turbulenzen. Das strukturelle Defizit aus hohen Ausgabensteigerungen und geringeren Einnahmezuwächsen werde auch in den Folgejahren bestehen bleiben: „Die Spahn-Gesetze wirken über 2021 hinaus. Hinzu kommen die Kosten der Corona-Krise. Auf der anderen Seite brechen die Beitragseinnahmen weg, denn die Grundlohnsumme dürfte bei anhaltender Pandemie unter Druck geraten.“ Aus den Rücklagen der Kassen oder aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds könne man dann aber nichts mehr holen: „Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden. Und zusätzliche Bundesmittel sind für 2022 und die Zeit danach bei der inzwischen angespannten Haushaltslage nicht zu erwarten“, so Hoyer.
Die Kombination aus ungebremstem Ausgabenanstieg und sinkenden Einnahmen wird nach seiner Einschätzung spätestens 2022 zu weiteren Beitragssatz-Anhebungen führen. So sei für 2022 mit einem GKV-Fehlbetrag von mehr als 17 Milliarden Euro zu rechnen. Ohne Gegensteuern drohe dann ein Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitrags von 1,3 Prozent auf 2,5 Prozent.