Schadenersatz: Patienten machen Jagd auf Apotheker Benjamin Rohrer, 09.07.2011 11:52 Uhr
In Großbritannien sehen sich Apotheker immer öfter mit Schadenersatzforderungen von Patienten konfrontiert. Grobe Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht, falsche pharmazeutische Beratung und Abgabefehler sind die häufigsten Vorwürfe. Angeheizt wird die Prozessfreudigkeit der Patienten weniger durch tatsächliche Mängel bei der Versorgung, sondern vielmehr durch Anwälte, die in Klagen gegen Heilberufler ein Geschäft entdeckt haben. Die aus den USA bekannte „Compensation Culture“ (Schadenersatz-Kultur) hat Einzug im Königreich gehalten.
Vor allem mit Schadenersatzforderungen gegenüber Mitarbeitern der großen Apothekenketten hoffen Kunden und Anwälte auf ein schnelles Geschäft. Für viele Apotheker ist eine private Berufshaftpflichtversicherung daher mittlerweile unerlässlich. Denn was die meisten Verbraucher nicht wissen: Tausende Pharmazeuten arbeiten bei den Ketten auf Honorarbasis. „Bei diesen Apothekern übernehmen die Unternehmen oft keine Verantwortung“, sagt der Präsident der britischen Apothekergewerkschaft, John Murphy.
Aus diesem Grund bietet Murphys Organisation den Apothekern nicht nur juristische Hilfe, sondern auch eigene Versicherungen an. Seit 2003 ist die Zahl der von der Gewerkschaft jährlich abgewickelten Schadenersatzforderungen von 64 auf 529 gestiegen. Nur 7 Prozent konnten abgewehrt werden, etwa wenn die Ansprüche haltlos waren und überhaupt kein Schaden verursacht wurde. „Es kam schon vor, dass Patienten wegen Nebenwirkungen, die auftreten hätten können, eine Entschädigung forderten“, sagt Murphy.
Der geforderte Schadenersatz ist im Vergleich zu den Kosten der Anwälte oft gering. Dass sich die Patienten trotzdem auf den Streit mit ihrem Apotheker einlassen, liegt schlichtweg am Angebot: Mehrere Kanzleien werben mit unter dem Motto „No win no fee“ mit der Zusicherung, dass im Falle einer Niederlage keinerlei Kosten fällig werden. Auf den Internetseiten der Patientenanwälte gibt es sogar „Schadenersatz-Kalkulatoren“: Wie beim Gas- oder Strompreisvergleich geben Patienten Informationen zu ihrem Fall ein und erhalten einen Voranschlag.
In den meisten Fällen einigen sich die Versicherungen der Apotheker außergerichtlich mit den Anwälten. Denn wenn die Pharmazeuten von einem Gericht zur Schadenersatzzahlung verurteilt werden, müssen auch die gesamten Prozess- und Anwaltskosten übernommen werden. Alleine für Schadenersatzforderungen wegen vermeintlicher Fahrlässigkeit zahlten die Versicherungen seit 2003 knapp 1,3 Millionen Pfund.
„Die Gesellschaft hat in den letzten Jahren eine befremdliche Einstellung zum Schadenersatz entwickelt“, sagt Murphy und nennt als Beispiel den Fall einer 20-jährigen Kundin, die aus der Apotheke regelmäßig Kontrazeptiva bezog und trotzdem schwanger wurde. Der Apotheker hätte sie auf das Restrisiko hinweisen müssen, begründete die junge Frau ihre Forderung. Oder eine Patientin, der zu Hause eine Dose mit Antidepressiva auf den Küchenboden gefallen war: Weil die Packung kaputt gegangen war, hatte ein dreijähriges Kind zwei Tabletten geschluckt und im nahe gelegenen Krankenhaus intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Für die Mutter Grund genug, gegen die Apothekerin Schadenersatzansprüche geltend zu machen.