Kinderlähmung galt aus ausgerottet

Polio-Virus: Erstmals im Abwasser aufgetaucht

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Berlin -

In den vergangenen Wochen tauchten vermehrt Meldungen von Polio-Viren im Abwasser auf. In London spricht man von einer besorgniserregenden Anzahl von kontaminierten Abwasserproben. Wahrscheinlich ist ein Lebendimpfstoff schuld an den erhöhten Werten. Kürzlich trat ein erster Polio-Fall in den USA auf. Infiziert hatte sich ein junger, ungeimpfter Mann. Muss Deutschland sich Sorgen machen und wie sieht hierzulande eigentlich die Impfquote aus?

Poliomyelitis, auch Kinderlähmung genannt, war bis etwa 1960 weltweit stark verbreitet. Erst die Einführung des Lebendimpfstoffs 1961 drängte den Erreger wirklich zurück – eine Schluckimpfung, die Kindern mit einem Stück Würfelzucker verabreicht wurde.

Kinder von drei bis acht

Von der Erkrankung waren überwiegend Kinder im Alter von drei bis acht Jahren betroffen, Erwachsene erkrankten nur gelegentlich. Typische Symptome sind Nackensteifigkeit, Fieber, Muskelkrämpfe und Rückenschmerzen. In 0,1 bis 1 Prozent der Fälle entwickelt sich eine paralytische Poliomyelitis, wobei nach schweren Nacken- und Muskelschmerzen auch Lähmungen auftreten, die seitenungleich verteilt sind. Bei Kindern wurden diese häufiger beobachtet als bei erkrankten Erwachsenen.

Schlechte Hygiene

Die Übertragung findet hauptsächlich fäkal-oral statt. Zur Ausscheidung von Viren über den Stuhl kommt es schon in den ersten Tagen nach der Infektion, dies kann bis zu sechs Wochen anhalten. Schlechte hygienische Verhältnisse begünstigen demnach die Ausbreitung von Poliovirus-Infektionen. Eine spezifische Therapie mit antiviralen Substanzen ist nicht verfügbar. Die Behandlung erfolgt symptomatisch. Im Anschluss sind je nach Verlaufsform meist längere physiotherapeutische und orthopädische Nachbehandlungen erforderlich.

Polio-Impfung

Zum Schutz gegen eine Polio-Erkrankung steht eine Routine-Impfung mit inaktiviertem Polio-Virus zur Verfügung. Gemäß Ständiger Impfkommission (Stiko) beginnt die Grundimmunisierung im Alter von zwei Monaten und umfasst insgesamt drei Impfdosen.

In Deutschland werden zu wenige Kinder gegen Polio geimpft. Zwar scheint der Abwärtstrend zu stagnieren, trotzdem sind es für einen Schutz der Bevölkerung immer noch zu wenig: 2018 lag die Impfquote beim Schulstart bundesweit bei 92,8 Prozent, so die jüngsten Daten des Robert Koch-Instituts (RKI). Insgesamt sind demnach über 50.000 Kinder nicht geimpft. Um einen ausreichenden Schutz für die Bevölkerung zu gewährleisten, muss eine Impfquote von mindestens 95 Prozent erreicht werden.

Polio-Viren im Abwasser

Europa gilt seit 2002 frei von Polio-Wildviren, Südostasien seit 2014, Afrika seit 2020. Noch nicht als poliofrei gilt die WHO-Region „Naher Osten“. Umso beunruhigender ist der Fund von Polio-Viren im Abwasser in New York. Die Gesundheitsbehörde vor Ort ist besorgt und dessen Chef Ashwin Vasan appellierte an die New Yorker, sich impfen zu lassen: „Das Risiko für die New Yorker ist real, aber der Schutz ist so einfach.“

Viele Kinder nicht geimpft

14 Prozent der in New York wohnhaften Kinder seien nicht gegen Polio geimpft. Die Behörden machten in diesem Zuge nochmals auf den im Juli aufgetretenen Fall aus Rockland, einem angrenzenden Bezirk, aufmerksam: Ein ungeimpfter Mann war an Polio erkrankt ­– der erste Fall in den USA seit fast einem Jahrzehnt. Ob die im Abwasser gefundenen Viren von einem Wildtyp des Poliovirus stammen oder von einem Impfstoff, schrieben die Behörden nicht.

In den vergangenen Monaten wurden wiederholt Polioviren in Abwasseruntersuchungen in Israel, den USA und Großbritannien nachgewiesen. Dabei soll es sich nicht um Polioviren des Wildtyps handeln, sondern um Erregerstämme, die sich aus dem abgeschwächten oralen OPV-Impfvirus (Schluckimpfung) entwickelt haben. Als Reaktion auf die Abwasserfunde rief der Gemeinsame Ausschuss für Impfung und Immunisierung dazu auf, alle Kinder zwischen ein und neun Jahren in London erneut mit einer Dosis IPV gegen Polio impfen zu lassen.

„Derzeit gibt es in Deutschland keine flächendeckenden abwasserbasierten Untersuchungen auf Infektionserreger“, so Dr. Kathrin Keeren Geschäftsstelle der Nationalen Kommission für die Polioeradikation in Deutschland am RKI. Die Testung von Abwasser auf Polioviren werde derzeit aber im Rahmen eines Pilotprojektes etabliert. „Die Analyse unterscheidet sich methodisch von der Sars-CoV-2-Untersuchung und muss weitaus sensitiver sein, um möglichst bereits bei einem infizierten Ausscheider in einer Großstadt valide Ergebnisse zu liefern. In Zeiten der Globalisierung und des Tourismus sind Polionachweise im Abwasser durchaus möglich.“

Eintragungen von Polioviren aus noch endemischen Ländern oder Ländern, die den Lebendimpfstoff (OPV) verwenden, könnten erst ausgeschlossen werden, wenn die Poliomyelitis weltweit ausgerottet sei. „Wichtig ist das Aufrechterhalten einer hohen Impfquote auch in bereits poliofreien Regionen. Der inaktivierte Polioimpfstoff (IPV), der in Deutschland verwendet wird, schützt zuverlässig vor der Erkrankung durch Polioviren.”

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