Als ab 2006 das Kettengespenst umher ging, war regelmäßig von „Wildwest-Zuständen“ die Rede. Lieber den Markt vorsorglich politisch freigeben, als nach einem entsprechenden Urteil ungeregelte Zustände zu riskieren, lautete das Argument von DocMorris, Celesio & Co. In Österreich könnte dieses Szenario jetzt tatsächlich eintreten: Weil der Gesetzgeber auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Bedarfsplanung bislang nicht reagiert hat, soll es nun die Justiz richten. Doch die ist überfordert.
Im Februar 2014 hatte der EuGH entschieden, dass die österreichische Bedarfsplanung in der bestehenden Form unrechtmäßig ist: Eine starre Existenzsicherungsschwelle für die umliegenden Apotheken, wie sie das österreichische Recht vorsieht, widerspricht aus Sicht der Richter dem Unionsrecht. Es müsse Ausnahmeregelungen geben, die ein Abweichen erlaubten.
Seitdem hat sich nichts geändert: In Österreich darf nach wie vor eine Apotheke nur dann eröffnet werden, wenn es einen Bedarf gibt. Dieser wird unter anderem dadurch definiert, dass die Zahl der Kunden der bereits bestehenden Apotheken in der Umgebung nicht unter 5500 Personen sinkt. Außerdem muss der Abstand zur nächsten Apotheke mindestens 500 Meter betragen. Schließlich darf es keine ärztliche Hausapotheke in der Gemeinde geben, sofern nicht mindestens zwei Allgemeinmediziner am Ort praktizieren.
Jetzt lag beim EuGH ein neues Vorlageverfahren zur Entscheidung. Ein Apotheker hatte seinen Sitz innerhalb der oberösterreichischen Gemeinde Leonding verlegen wollen, einem Vorort der Landeshauptstadt Linz. Die zuständige Bezirksverwaltungsbehörde lehnte den Antrag im Juli 2011 ab. Der Fall ging vor Gericht, nach einigem Hin und Her gab das Verwaltungsgericht (VG) dem Antrag im Mai 2014 statt mit der Auflage, den Mindestabstand zur nächstgelegenen Apotheke einzuhalten.
Das Urteil rief fünf benachbarte Apotheker auf den Plan, die erfolgreich vor dem Verwaltungsgerichtshof (VGH) Beschwerde einlegten. Die Richter hoben die Entscheidung der Vorinstanz auf: Das VG habe fälschlicherweise von vornherein die Anwendbarkeit der Bedarfsprüfung verneint und insofern einen Rechtsfehler begangen.
Ohne selbst den Bedarf detailliert zu untersuchen, erklärten die Richter, dass es keine Anhaltspunkte für eine Verbesserung der Versorgung einer „in ländlichen und abgelegenen Gebieten wohnhaften Bevölkerung“ gebe – die vom EuGH geforderten Ausnahmen also ohnehin nicht gegriffen hätten, selbst wenn sie bereits umgesetzt worden wären.
Das VG legte den Fall jetzt in Luxemburg vor. Aus Sicht der Richter hat der EuGH mit seinem ursprünglichen Urteil Ausnahmen für die gesamte Bedarfsplanung gefordert und nicht nur für Fälle, in denen es um Regionen mit bestimmten geografischen Besonderheiten geht, beispielsweise dünn besiedelte ländliche Gebiete. Der normierte starre Grenzwert ermögliche es den Behörden nicht, Besonderheiten des konkreten Einzelfalls angemessen zu berücksichtigen, heißt es in der Vorlage.
Laut Verwaltungsgerichtshofgesetz ist das VG an die Entscheidung des VGH gebunden. Diesen Sachverhalt wollten die Richter jetzt geklärt wissen: Wie man denn mit der Entscheidung der übergeordneten Instanz umzugehen habe, wenn man selbst überzeugt sei, dass diese dem Gemeinschaftsrecht widerspreche?
Der EuGH hat sich die Sache einfach gemacht und unter Verweis auf die bisherige Rechtssprechung ohne Anhörung entschieden: Ein nationales Gericht könne nicht nach einer nationalen Vorschrift an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts gebunden sein, wenn diese mit dem Gemeinschaftsrecht nicht zu vereinbaren sei.
Den österreichischen Apotheken und den für sie zuständigen Behörden hilft dieser Richterspruch aus Luxemburg nicht weiter. Denn der EuGH sieht zwar auch, dass zwischen beiden Gerichten eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Tragweite seines Urteils besteht. Die EU-Richter fühlen sich aber nicht bemüßigt, den Sachverhalt zu klären, da sie vom VG dazu nicht befragt worden seien.
So grübelt man in Linz und Wien jetzt, wie mit dem Urteil umzugehen ist. Einstweilen läuft es auf ein Ping-Pong zwischen den Gerichten hinaus. Der VGH hat seit dem ursprünglichen EuGH-Urteil jedenfalls bereits in zehn Fällen zur Bedarfsplanung entschieden, ohne Ausnahmeregelungen in Erwägung gezogen zu haben.
Eines der Verfahren liegt bereits wieder beim VG – und zwar der Streit um jene Apotheke, deren Zulassung mit dem EuGH-Urteil vor anderthalb Jahren durchgeboxt wurde. Der VGH hatte argumentiert, dass es so ländlich in Pinsdorf ja gar nicht zugehe. Vielleicht muss die Politik das Problem lösen: Im Ministerium liegt bereits ein Vorschlag, wie die Bedarfsplanung novelliert werden könnte.
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