Tamilfu, Chloramphenicol, Viagra ohne Rezept: Neuseeland gilt nach zahlreichen OTC-Switches in den vergangenen Jahren als eines der liberalsten Ländern in Sachen Selbstmedikation. Sogar zum Impfen können Patienten in die Apotheke gehen. Die Apothekerkammer hat die Entwicklung aktiv begleitet – und sich so erfolgreich gegen die Abwanderung von OTC-Medikamenten in den Mass Market gestellt.
2001 wurde in Neuseeland die „Pille danach“ aus der Verschreibungspflicht entlassen. Davor waren Switches kaum ein Thema, doch die Erfahrungen mit den Notfallkontrazeptiva waren für die Fachkreise ein Anlass, sich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Als der zuständige Sachverständigenausschuss, dem je zwei Vertreter des Ministeriums, der Ärzte und der Apotheker angehören, 2004 neu besetzt wurde, nahm die Sache Fahrt auf.
Noch im selben Jahr wurden Fluconazol und Orlistat aus der Rezeptpflicht entlassen, 2005 folgte das hierzulande unbekannte Glucocorticoid Aclometason. 2006 kam mit Sumatriptan das erste Migränemittel in die Sichtwahl – und zur Überraschung der meisten Beobachter wurde sogar Tamiflu (Oseltamivir) unter strengen Auflagen aus der Rezeptpflicht entlassen: So durften die Apotheker das Grippemittel nur in einem bestimmten Zeitraum und nach persönlichem Kontakt und ausführlichen Beratungsgespräch abgeben.
„Der Zeitpunkt war günstig“, erinnert sich Dr. Natalie Gauld, die von 2004 bis 2009 als Vertreterin der Apotheker im Sachverständigenausschuss saß. „Bei der 'Pille danach' konnten die Apotheker Erfahrungen mit Schulungs-, Beratungs- und Protokollierungspflichten sammeln. Diese konnte man relativ einfach für andere Wirkstoffe nutzen.“ So wurden 2008 Omeprazol und 2009 Chloramphenicol, Famciclovir als Tablette und Zolmitriptan als Nasenspray aus der Rezeptpflicht entlassen.
Nach Ablauf ihrer Amtszeit trat Gauld mit ihrer Beratungsfirma an die Apothekenkooperation Green Cross heran, die rund 350 Mitglieder hat: „Warum sollten man es den Herstellern überlassen, Anträge auf Entlassung aus der Rezeptpflicht stellen? Die Apotheker sollten ihren Sachverstand nutzen, um solche Entwicklungen aktiv zu begleiten“, sagt Gauld.
Von elf beantragten Switches brachte Gauld in Zusammenarbeit mit Green Cross und Unterstützung der Apothekerkammer acht durch: Calcipotriol (2010), Trimethoprim (2012) und Sildenafil (2014) sowie die Impfungen gegen Cholera/ETEC (2011), Influenza (2012) sowie Meningokokken, Tetanus/Diphtherie/Keuchhusten und Windpocken (2013).
Parallel untersuchte Gauld von 2008 bis 2013 als Wissenschaftlerin an der Universität von Auckland die Folgen der OTC-Switches in Neuseeland, aber auch die Situation in anderen Ländern. Ihr Fazit: Die Entlassung in die Selbstmedikation hat nicht zu einem verantwortungslosen Umgang mit den betroffenen Medikamenten geführt. Bei Viagra hätten die Abverkäufe seit vergangenem Oktober angezogen, ansonsten sei kein Mehrverbrauch festzustellen gewesen.
Ihrer Meinung nach ist die Apothekerpflicht das Erfolgsgeheimnis: Während in Neuseeland gängige Präparate wie Paracetamol auch im Supermarkt erhältlich sind, dürfen die aus der Rezeptpflicht entlassenen Medikamente nur durch Approbierte abgegeben werden, die sich außerdem vorab qualifizieren müssen.
Die Apotheker hätten ihre neue Rolle gerne angenommen, berichtet Gauld. Von einer neuen beruflichen Dimension sei mitunter die Rede. Die Pharmazeuten nutzten die Checklisten, die ihnen zur Verfügung gestellt würden, und kämen gut damit zurecht.
Auch die Verbraucher hätten sich daran gewöhnt, dass Apotheker sie nicht aus Neugierde ausfragten, sondern weil sie im Rahmen der Selbstmedikation gesetzlich dazu verpflichtet seien. Eine Umfrage von Green Cross hatte ergeben, dass 98 Prozent der Verbraucher mit der Grippeimpfung in der Apotheke zufrieden seien – und dass 42 Prozent von ihnen im Vorjahr nicht geimpft gewesen seien.
In Neuseeland gibt es rund 950 Apotheken, die zu 51 Prozent einem Apotheker gehören müssen. Mehrbesitz von bis zu fünf Apotheken ist möglich, in den meisten Fällen arbeiten die Inhaber aber in ihrer Apotheke. Ketten gibt es also nicht; die Initiative der Apotheker ist daher wohl vor allem beruflich motiviert.
Doch es gibt auch Vorbehalte, vor allem seitens der Ärzte. Mit der Impfung in der Apotheke könnten sich viele Mediziner nach wie vor nicht anfreunden, meint Gauld. Zuletzt wurden auch zwei neuerliche Vorstöße abgelehnt: Weder Nifurantoin zur Behandlung von Harnwegsinfektionen noch Kontrazeptiva wollte der Ausschuss vor einigen Wochen aus der Rezeptpflicht entlassen. Gauld hofft, dass es beim nächsten Anlauf im November doch noch klappt.
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