Apotheken ohne Apotheker: Die Blaupause für die Apothekenreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kommt aus den USA. Dort gibt es solche Modelle bereits – und zwar in Bundesstaaten, in denen ganze Landstriche ohne Einwohner sind. Was sich in North Dakota bewährt hat, soll nach den Plänen von Lauterbach bald auch in Brandenburg adaptiert werden.
Weite Prärie und endlose Felder, einsame Highways, die durch leere Landschaften führen: North Dakota ist mit einer Fläche von 183.000 Quadratkilometern halb so groß wie Deutschland, allerdings leben gerade einmal 800.000 Menschen in dem nördlichen US-Bundesstaat. Entsprechend gering ist die Bevölkerungsdichte: Mit vier Einwohner:innen pro Quadratkilometer – in Deutschland sind es 236 – liegt North Dakota auf dem viertletzten Platz, nur Alaska, Wyoming und Montana sind noch dünner besiedelt.
Rund 180 Apotheken sichern die Arzneimittelversorgung, hinzu kommen 50 Krankenhausapotheken. Bezogen auf die Bevölkerung ergibt sich damit eine Quote von 22,5 Apotheken auf 100.000 Einwohner, damit liegt North Dakota sogar über dem bundesweiten Durchschnitt von 18,8. Legt man allerdings die Fläche zugrunde, findet sich statistisch auf 1000 Quadratkilometern nur eine Apotheke.
Dass trotzdem die meisten Einwohner im Umkreis von zehn Meilen eine Apotheke finden und nur drei kleinere Landkreise, die besonders dünn besiedelt sind, gänzlich ohne Apotheke auskommen müssen, hat mit einer weiteren Versorgungsform zu tun: Zusätzlich zu den regulären Apotheken gibt es in North Dakota sogenannte „Remote-Apotheken“. Dabei handelt es sich um Filialen, in denen nur PTA („Pharmacy Technician“), aber keine Apothekerinnen oder Apotheker tätig sind.
Aktuell gibt es rund 60 solcher Standorte, überwiegend in unterversorgten Gemeinden mit 500 bis 1000 Einwohner:innen. Auf diese Weise, heißt es von offizieller Stelle, kann die Versorgung von rund 80.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ländlicher Gemeinden sichergestellt werden.
Seit mehr als 20 Jahren gibt es dieses Modell; eingeführt wurde es, um eine drohende Unterversorgung abzuwenden. Denn um die Jahrtausendwende standen 27 Apotheken in ländlichen Gemeinden in North Dakota kurz vor der Schließung. Die Inhaber und Inhaberinnen standen vor der Rente und fanden nach Jahren der Suche keine Nachfolge. Beim „North Dakota State Board of Pharmacy Meeting“ im Jahr 2000 wurde daher erstmals ein Lösungsansatz vorgestellt: die Telepharmazie.
Skizziert wurde der Lösungsvorschlag wie folgt: Dort, wo mangels Apothekerin oder Apotheker keine vollwertige Apotheke betrieben werden kann, können Abgabestelle als Filialen einer öffentlichen Apotheke die Versorgung übernehmen. Während ein/e PTA als Ansprechpartner/in vor Ort ist, wird aus der Hauptapotheke eine Apothekerin oder ein Apotheker zugeschaltet. Per Telepharmazie kann so das Beratungsgespräch jederzeit ergänzt werden. Nach Ablauf einer Pilotphase stimmte die staatliche Apothekenbehörde zu, dass pro Hauptapotheke bis zu vier Satellitenstandorte betrieben werden dürfen.
Die Filialen haben grundsätzlich dieselben Anforderungen wie alle Apotheken in North Dakota zu erfüllen, allerdings stehen sie unter der Verantwortung des Apothekers der Hauptapotheke. Sie benötigen eine ständige Computer-, Video- und Audioverbindung zur Hauptapotheke und müssen dieselbe Software nutzen. Rezepte und tägliche Aufzeichnungen müssen kontinuierlich in der Hauptapotheke aufbewahrt werden, wobei eine klare Unterscheidung zwischen den Unterlagen der Standorte bestehen muss.
Jedes Rezept der Remote-Filiale muss durch einen Apotheker in der Zentralapotheke genehmigt werden, bevor es beliefert werden kann. Als Abgabestelle gilt die Zentralapotheke. Sowohl die Initialen des Apothekers als auch der PTA müssen auf dem Ausfüllbildschirm, im Patientenprofil und auf dem Etikett erscheinen. Ein Apotheker vergleicht per Videolink die Vorratsflasche, das abgegebene Medikament und die Stärke. Das gesamte Etikett muss auf dem Videolink auf Richtigkeit überprüft werden. Die Beratung muss durch einen Apotheker per Video- und Audioverbindung erfolgen.
Der verantwortliche Apotheker muss seinen Remote-Standort auch monatlich inspizieren und die Ergebnisse dokumentieren. Diese sind ebenfalls in der Hauptapotheke aufzubewahren und bei der nächsten behördlichen Überprüfung vorzuzeigen. Der Apotheker ist gesetzlich angehalten, etwaige Fehlerquellen zeitnah zu beseitigen.
Joan Little arbeitet als PTA in einem ebensolchen Satelittenstandort. Die Edgeley-Pharmacy in North Dakota versorgt den gleichnamigen 600-Seelen-Ort im Südosten des Bundesstaates mit Arzneimitteln. „Wir haben einen Extra-Computer im Einsatz“, berichtet sie, „damit übermitteln wir die Rezepte und bereitgestellten Präparate via Dokumentenkamera zum Apotheker. Dieser arbeitet in einer öffentlichen Apotheke in einer größeren Stadt und wird benachrichtigt, wenn wir ihn brauchen. Er kontrolliert das Rezept und die Medikation. Im Anschluss gibt er die Belieferung frei. Das ist schon alles“, erklärt sie.
„Nur PTA in ländlichen Gebieten dürfen auf diese Weise Rezepte beliefern“, erklärt Little, „Mein Beruf hat sich mit der Telepharmazie geändert. Davor hatte ich weniger Kundenkontakt, sondern war mit dem Bereitstellen der Medikation und medizinischer Geräte beschäftigt.“
Dr. Daniel Churchill ist seit mehr als 16 Jahren als Apotheker selbstständig; als Inhaber der Churchill Pharmacy in North Dakotas Hauptstadt Bismarck betreut er als Apotheker seit elf Jahren vier eigene Remote-Standorte. Einer davon ist die Filiale in Edgeley. „Einen großen Unterschied gibt es für den Kunden grundsätzlich nicht. Wenn ein Apotheker für ein Beratungsgespräch herangezogen werden muss, passiert das über eine Webcam anstatt persönlich.“ Im Vergleich zu normalen Beratungsgesprächen wird er nur ein paar Mal pro Tag von seinen Remote-Filialen auf dem Land konsultiert, „zum überwiegenden Teil kommen Patienten in die Apotheke, um ihre Dauermedikation wieder auffüllen zu lassen“, sagt er. „Der Durchschnittskunde hat bei uns nicht viele Fragen.“
Das bestätigt auch Little: „Wir fragen die Kunden vor der Übersendung des Rezeptfotos, ob ein Gespräch mit dem Apotheker gewünscht ist“, erklärt sie. „Das ist selten der Fall. Vielleicht einmal pro Tag. An manchen Tagen auch gar nicht.“ Little weiß genau, woran das liegt: „Zumindest hier in Edgeley nehmen die Patienten ihre Medikamente seit Jahren. Da geht es nur gelegentlich darum, Fragen zu klären. Die meisten Kunden kommen sowieso wegen Refills.“
In den USA ist es üblich, dass es auf dem Rezept einen Vermerk „Refill“ (Auf- oder Nachfüllung) gibt. Die entsprechende Zahl dahinter gibt an, wie oft der Patient sich einen Nachschub in der Apotheke holen kann, ohne dafür erneut zum Arzt zu müssen.
Für den Fall, dass ein Gespräch gewünscht ist, gibt es einen „Consultation Room“ – einen diskreten Gesprächsraum mit Computer. Über diesen findet dann via Headset und Webcam ein Gespräch mit dem Apotheker statt, der auch die Rezeptkontrolle durchgeführt hat. Hier können alle notwendigen Fragen zur Medikation in Ruhe geklärt werden.
„Telepharmazie ist auf jeden Fall ein Gewinn für die Arzneimittelversorgung in North Dakota“, erklärt Churchill. „Sie wurde entwickelt, um den Apothekendienst in unterversorgten Gebieten aufrechtzuerhalten. Es hilft der Apotheke, mehr Menschen und Gebiete zu versorgen. Das ist schließlich das Herzstück des Apothekerberufs.“ Das funktioniere gut und die Gemeinden schätzen die Dienste der Apotheke sehr, so Churchill weiter.
Auch in anderen US-Bundesstaaten gibt es Telepharmazie; aktuell sollen entsprechende Ausgabestellen ohne Apotheker vor Ort auch in Florida zugelassen werden. Damit wächst das Risiko, dass vollwertige Apotheken an Orten verdrängt werden, an denen eigentlich eine reguläre Apotheke betrieben werden könnte.
Das sieht man auch in North Dakota kritisch: „Telepharmazie ist für Apotheken eine Möglichkeit, mehr Menschen in mehr Gebieten besser zu versorgen. Genau dafür ist es da, und das ist es, was Apotheker tun wollen: sich um ihre Kunden kümmern“, findet Churchill. So hilfreich Telepharmazie auch sei, sie dürfe nicht missbraucht werden. „Die Telepharmazie wurde nicht erfunden, um Apotheker einzusparen und Profit zu machen”, stellt er klar, „Deshalb bin ich der Meinung, dass es angemessene Regelungen geben sollte, um Missbrauch zu verhindern.“
„Ohne Telepharmazie gäbe es unsere Apotheke schon lange nicht mehr“, erklärt Little, „dabei sind die Menschen hier auf eine Versorgung natürlich angewiesen.“ Die nächste Apotheke ist rund 45 Kilometer von Edgeley entfernt. „Unsere Kunden sind dankbar dafür, dass wir durch den Einsatz von Telepharmazie weiter bestehen können.“
Andere Apotheken hingegen haben die Telepharmazie wieder eingestampft. Der kleine Ort Wishek – der mit rund 900 Einwohnern etwas größer ist als Edgeley – hat mittlerweile ausreichend Apotheker. „Telepharmazie? Haben wir hier nicht mehr. Wir haben jetzt einen eigenen Apotheker“, hieß es in der Apotheke knapp am Telefon.
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