Gehörlos am HV-Tisch Maria Hendrischke, 03.12.2015 09:04 Uhr
Der Slowene Sreco Dolanc ist womöglich Europas erster gehörloser Apotheker. Das vermutet zumindest seine Chefin Karin Simonitsch, Inhaberin der Marien-Apotheke in Wien. Sie hat den Umgang mit der Behinderung zum Programm gemacht, beschäftigt inzwischen drei gehörlose Mitarbeiter und ist zur Anlaufstelle für gehörlose Menschen geworden.
2007 nahm Simonitsch den ersten gehörlosen Mitarbeiter in der Marien-Apotheke auf: David Iberer. Das sei ein Freundschaftsdienst gewesen, sagt sie. Iberer, Sohn hörender Eltern, begann seine Ausbildung zum pharmazeutisch-kaufmännischen Assistenten (PKA). „Leider war es am Anfang recht schwierig für ihn, denn er beherrschte die Gebärdensprache nicht“, berichtet die Apothekerin. Er habe sich nur mit engen Vertrauten verständigen können.
Doch Iberer bekam bald Unterstützung von einem zweiten Gehörlosen. Tolga Korkmaz fing mit 16 Jahren in der Apotheke an, ebenfalls als PKA-Lehrling. „Eigentlich hatte er schon eine andere Arbeit gefunden, aber dort bekam er kurzfristig eine Absage“, erinnert sich Simonitsch. Sie stellte Korkmaz unter der Bedingung ein, dass er seinem Kollegen Iberer die Gebärdensprache beibringt und ihm die Kultur der Gehörlosen zeigt. „Aus der 'Zwangsehe' ist inzwischen eine Freundschaft geworden“, sagt die Apothekerin.
Schließlich bewarb sich im Februar 2013 Dolanc bei ihr, damals noch Pharmaziestudent – und ebenfalls gehörlos. Dolanc hatte sich bereits als Kind für Pflanzen begeistert und im Garten seiner Eltern ein eigenes Beet gepflegt. „Deshalb habe ich mich später – trotz meiner Gehörlosigkeit – für das schwierige Pharmaziestudium entschieden“, erzählt er.
Nicht nur inhaltlich sei sein Studium in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana eine Herausforderung gewesen, so Dolanc. Den Professoren in der Vorlesung habe er kaum folgen können; die Dolmetscher seien meist nicht qualifiziert genug gewesen, um ihm Fachbegriffe zu übersetzen. Von der Universität habe es keine weitere Unterstützung, im Gegenteil: „Ein Senatsmitglied sagte mir damals sogar: 'Warum studierst du überhaupt, du wirst als Gehörloser keine Chance im Bereich der Pharmazie haben'.“ Darauf habe er geantwortet, dass auch behinderte Menschen das Recht hätten, zu studieren.
Dolanc gab nicht auf, lernte mit den Skripten von Kommilitonen zu Hause – und schloss sein Studium erfolgreich ab. Schon vor dem letzten Examen bewarb er sich bei zahlreichen Apotheken und Pharmaunternehmen in seinem Heimatland. Er musste reihenweise Absagen einstecken. „Das war eine sehr schwierige Zeit für mich“, gibt Dolanc zu.
Dann las er in einem Zeitungsartikel vom Engagement der Marien-Apotheke. Er fuhr nach Wien und stellte sich Simonitsch persönlich vor. „Sie hat nur gesagt, dass ich Deutsch lernen muss, dann kann ich in der Apotheke zu arbeiten beginnen“, berichtet er. Die deutschen Gebärden lernte Dolanc innerhalb weniger Monate.
Inzwischen übernimmt Dolanc alle Apothekertätigkeiten – nur das Telefon kann er nicht beantworten. Er berät sowohl hörbehinderte als auch hörende Kunden. Übersetzt wird er dabei zum Teil von Kollegen: Simonitsch hat zwei Mitarbeiterinnen, eine PKA und eine Pharmaziestudentin im Praktikum, die hörende Kinder tauber Eltern sind. Gebärdensprache ist ihre Muttersprache.
Doch auch mit anderen der insgesamt 45 Angestellten kann Dolanc problemlos kommunizieren. „Ich organisiere Sprachkurse für alle, die während der Arbeitszeit stattfinden“, berichtet Simonitsch. Die Kurse werden von externen Lehrkräften veranstaltet. Die Hälfte der Kosten trägt die Stadt Wien im Rahmen der Förderung für interkulturelle Zusammenarbeit; die andere Hälfte zahlt die Inhaberin. „Etwa fünf Mitarbeiter beherrschen die Gebärdensprache inzwischen perfekt, knapp 15 weitere sind recht gut“, schätzt Simonitsch.
Es helfe beim Lernen, ein extrovertierter Mensch zu sein, der von Natur aus gerne gestikuliere und eine reiche Mimik habe. Simonitsch kann die Sprache zwar noch nicht – „aber viele Gebärden sind sehr natürlich, daher kann ich mich trotzdem gut mit meinen nicht hörenden Mitarbeitern verständigen“, sagt sie. Nur wenn sie wichtige Themen zu besprechen habe, etwa eine anstehende Fortbildung, hole sie eine professionelle Übersetzungskraft hinzu.
Acht Stunden pro Woche kommt eine Gebärdendolmetscherin in die Marien-Apotheke. Die Arbeitsassistenz wird vom österreichischen Sozialministerium bezahlt. In den Beratungssituationen wird Dolanc auch gefilmt. „Es gibt für die Pharmazie noch wenig Fach-Gebärden“, berichtet er. Um diese zu etablieren und zu verbreiten, arbeiten er und die Übersetzerin mit der Universität Klagenfurt zusammen.
Erst als Dolanc seine Arbeit in der Marien-Apotheke begonnen hat, hat Simonitsch angefangen, verstärkt auf gehörlose Kunden zuzugehen. „Ich wollte einen Kollegen mit der nötigen Ausbildung haben, bevor ich diesen Service anbiete“, erklärt sie. In Wien lebten etwa 5000 Gehörlose. Dass nun alle in ihre Apotheke aufsuchen, glaubt sie nicht. Allerdings: „Wenn nur die Hälfte davon regelmäßig in die Marien-Apotheke kommen würde, wäre das für einen Mitarbeiter allein nicht zu stemmen.“ Doch mit der neuen Pharmaziestudentin könne die Arbeit etwas besser verteilt werden.
Simonitsch hofft, auf diese Weise neue Kunden zu gewinnen: „Vielleicht werden einige auch aus anderen Stadtteilen kommen, um sich einmal im Detail zu einem Thema beraten zu lassen.“ Doch bei akuten Kopfschmerzen würden sie weiterhin ihre Apotheke um die Ecke aufsuchen, ist sie überzeugt. Daher versteht Simonitsch nicht, warum einige Kollegen ablehnend reagierten, als sie ihnen vorschlug, dass sie gehörlose Kunden auf die Marien-Apotheke hinweisen könnten.
Dolanc arbeitet inzwischen mit der österreichischen Apothekerkammer an einem Onlineprojekt. Er nimmt Videos auf, in denen er Hörgeschädigten aktuelle gesundheitliche Themen erklärt. Dolanc zeigt in Youtube-Videos etwa, was einen grippalen Effekt von einer Grippe unterscheidet.
Für sein besonderes Engagement wurde das Apothekenteam im November mit dem Betrieblichen Sozialpreis des österreichischen Sozialministeriums ausgezeichnet. Minister Rudolf Hundstorfer verlieh den mit 5000 Euro dotierten Preis persönlich. Zwei Mitarbeiterinnen hatten die Idee, die Marien-Apotheke für den Preis vorzuschlagen. „Wir haben uns mit unserem Inklusionsprojekt auf den Preis beworben– und haben tatsächlich gewonnen“, erzählt Simonitsch. Das freue sie sehr, denn Gehörlose machten selten öffentlich auf sich aufmerksam; sie lebten eher zurückgezogen und in ihrer eigenen Kultur. „Wir wollten zeigen, dass es auch anders geht“, sagt sie.
Die Marien-Apotheke wurde im Oktober 1909 von Hugo Trötsch eröffnet. 1934 erwarb Dr. Doris Schmatt, Großmutter der heutigen Inhaberin, die Apotheke. 1999 übernahm Simonitsch die Leitung, nachdem sie bereits sieben Jahre in der Apotheke tätig gewesen ist. Nach einer HIV-Erkrankung im Bekanntenkreis spezialisierte sie ihre Apotheke auf die Krankheit.