Hersteller MSD rechnet offenbar mit Arzneimittelengpässen durch den Brexit: Einem Bericht der Wirtschaftsagentur Bloomberg zufolge plant der Pharmakonzern bereits umfassende Maßnahmen, um sich auf Lieferschwierigkeiten in Europa und Großbritannien vorzubereiten. Im Deutschland gibt man sich abwechselnd gelassen und besorgt.
Geht es um die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit, geben sich die internationalen Arzneimittelhersteller nach außen selbstsicher und zuversichtlich. Intern scheint jedoch vielerorts Verunsicherung zu herrschen. Die US-amerikanische Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg hat jetzt einen seltenen Einblick gegeben und Details zu den Vorbereitungen des US-Arzneimittelherstellers MSD Sharp & Dohme veröffentlicht. Ein Mitarbeiter, der mit den Vorgängen betraut ist, aber anonym bleiben will, berichtete der Agentur von den Notfallplänen bei MSD.
So arbeite das US-Unternehmen in Europa daran, einen Arzneimittelbestand von bis zu sechs Monaten vorzuproduzieren und einzulagern, um für Produktionsengpässe gewappnet zu sein. Denn schlimmstenfalls könnten neu eingeführte Dokumenten- und Zollkontrollen den Handel über Nacht derart erschweren, dass es auch bei der Lieferung von Grundsubstanzen für die Arzneimittelherstellung zu Versorgungsschwierigkeiten kommt. Die Kontrollen könnten die Lieferdauer von Großbritannien in die EU und umgekehrt um bis zu zwei Tage pro Route verlängern, so der MSD-Mitarbeiter.
Um mit den neuen regulatorischen Hürden umzugehen und entstehende Fragen klären zu können, erwäge MSD demnach auch, eine neue Abteilung einzurichten. Dazu sollen im niederländischen Haarlem eigens 30 neue Mitarbeiter, wahrscheinlich Zoll- und Handelsrechtsexperten, eingestellt werden. Außerdem sei geplant, die Kunden in die Vorbereitungen einzubeziehen: Abnehmer könnten angefragt werden, bis zu zwei Monate zusätzlicher Arzneimittelrationen zu kaufen, um im Zweifelsfall genug vorrätig zu haben.
Das Unternehmen bestätigte die Berichte von MSD gegenüber Bloomberg. „Im Moment handelt es sich dabei nur um Notfallpläne, sie werden also nicht zwangsläufig umgesetzt werden“, so eine Sprecherin. „Unser erstes und wichtigstes Ziel ist derzeit, Pläne zu entwickeln, die einen unterbrechungsfreien Zugang zu unseren Medikamenten während des Brexit-Vorgangs gewährleisten.“
Auch wenn diese Pläne sich entsprechend der Verhandlungsergebnisse zwischen EU-Führung und britischer Regierung noch erheblich ändern können, rechnen viele Hersteller nicht nur mit höheren Kosten, sondern auch strukturellen Veränderungen. So gaben AstraZeneca und GlaxoSmithKline (GSK) bereits bekannt, dass sie mit einer Verlagerung von Kapazitäten in die verbleibende EU rechnen, um weiterhin einen reibungslosen Ablauf von Tests und Zulassungsverfahren zu gewährleisten.
GSK, der größte Arzneimittelhersteller des Vereinigten Königreichs, rechnet nach eigenen Angaben damit, allein in den nächsten zwei bis drei Jahren bis zu 70 Millionen Pfund (80 Millionen Euro) zusätzlich für neue Zulassungsverfahren, die Übertragung von Vermarktungs- und Produktionslizenzen und ähnliche durch den Brexit notwendige Schritte auszugeben.
Deutsche Hersteller, die betroffen sein könnten, geben sich indes betont gelassen bis schmallippig, wenn es um die wirtschaftlichen und regulatorischen Auswirkungen des Brexits geht. Im März äußerte sich Merck-Chef Stefan Oschmann besorgt über die bevorstehenden Entwicklungen. 45 Millionen Packungen Medikamente würden monatlich aus der EU in die restliche EU transportiert, 35 Millionen umgekehrt. Ein Großteil der Qualitätskontrollen im Arzneimittelsektor und der Firmen, die dafür rechtlich zuständig sind, haben ihren Sitz in Großbritannien.
Bei 3000 dezentralen Zulassungen für insgesamt 6000 Arzneimittel ist Großbritannien derzeit Referenzstaat. Hier muss eine andere Behörde als die britische Arzneimittelzulassung die Verwaltung der Akten übernehmen, um über Änderungsanträge entscheiden zu können. Die Koordinierungsgruppe der Zulassungsbehörden (CMDh) will jetzt eine Prioritätenliste erarbeiten, um Lieferengpässe und Versorgungsabrisse zu verhindern. Auch Verfahren, die am Stichtag noch nicht abgeschlossen sind, sollen zurück auf Null gesetzt werden. Denn noch immer kommen neue Fälle hinzu, in denen amerikanische oder asiatische Unternehmen europäische Zulassungen via Großbritannien beantragen.
„Es wir zweifellos ungeheuer schwierig werden, das alles zu entflechten“, so Oschmann zur Tageszeitung Die Welt. Auch der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH). Insbesondere die Frage des Grenzverkehrs ist ein noch nicht gelöstes Problem, so BAH-Geschäftsführer Dr. Elmar Kroth. Denn viele Rohstoffe kämen über britische Häfen nach Europa. „Natürlich kann man sagen, dann fahren die eben nach Antwerpen statt Liverpool. Aber in der Praxis ist das eben nicht so einfach.“
Genauso gravierend seien die Folgen für die Lieferung von klinischen Prüfmustern, die laut Kroth heute überwiegend in Großbritannien freigegeben werden. Und dann ist da noch der Umzug der Europäischen Arzneimittelagentur EMA. Die wird zum Stichtag voraussichtlich noch nicht an ihrem neuen Standort in Amsterdam einsatzfähig sein – entgegen den Versprechen in der niederländischen Bewerbung. Die Unternehmen sind dennoch zu Optimismus verpflichtet. So beteuert eine Merck-Sprecherin gegenüber APOTHEKE ADHOC: „Wir haben da keine Befürchtungen und sind bestens vorbereitet.“
Ein wenig konkreter wird da schon Bayer. Es sei wichtig, „dass Großbritannien möglichst rasch konkrete Vorschläge macht, wie es sich die zukünftigen Beziehungen mit der EU vorstellt", so der Konzern gegenüber APOTHEKE ADHOC. „Der politische Zeitrahmen ist sehr knapp und gleichzeitig benötigt unser Geschäft Planungssicherheit.“
Je nach Ausgestaltung des künftigen Abkommens, brauche Bayer genug Zeit, um notwendige Anpassungen in seinem Geschäft vorzunehmen. Dabei versichert auch der Leverkusener Konzern: „Wir haben eine umfassende Notfallplanung vorgenommen, um sicherzustellen, dass Patienten und Kunden Zugang zu unseren Produkten behalten – trotz der unklaren künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union.“
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