In Estland wird es ernst: Im kommenden Frühjahr endet die Übergangsphase der 2014 beschlossenen Apothekenreform. Fremdbesitz ist dann verboten, Apotheken müssen mehrheitlich in der Hand des Inhabers sein. Das Land diskutiert nun über die bevorstehenden Änderungen, die Apothekenketten trommeln gegen die Reform.
Bereits seit Juni 2014 dürfen Apothekenketten in Estland keine neuen Filialen eröffnen. Jede neu eröffnete Apotheke muss sich im Besitz eines Pharmazeuten befinden. Es wurde allerdings eine fünfjährige Übergangsphase vereinbart, die im April 2020 endet. Eigentümer, die keine Apotheker sind, müssen dann ihre Lizenzen abgeben. In Estland gibt es derzeit knapp 500 Apotheken, von denen rund 200 mehrheitlich oder vollständig Pharmazeuten gehören. Unter den restlichen 300 Apotheken sind der Großhändler Magnum und die Phoenix-Tochter Tamro die größten Kettenbetreiber. 2018 hatten sie einen Umsatz von 391 Millionen Euro, von denen 73 Prozent aus dem Arzneimittelverkauf stammen. Davon wiederum entfallen knapp 79 Prozent auf den Rx-Bereich.
Die Reform geht zurück auf eine Initiative der Apothekerkammer Estlands und der sozialliberalen Zentrumspartei. Sie soll zu einer nachhaltigeren Entwicklung des Apothekennetzes führen, die dem Bedarf der Bevölkerung und des Staats folge – und nicht wirtschaftlichen Interessen. Der Verband der Apotheker und der Patientenrat unterstützen die Umstellung. Demgegenüber vertreten der Verband der Apotheken und der Großhändlerverband die Interessen der Ketten – und laufen nun Sturm gegen die anstehenden Änderungen. So sei die Finanzierung der Übernahmen gesetzlich gar nicht geregelt worden, kritisieren sie: „Als Konsequenz aus dieser Reform werden 75 bis 78 Prozent der estländischen Apotheken ihren Betrieb einstellen“, prophezeit Timo Danilov, Vorstandsmitglied des Apothekenverbandes.
Teet Torgo, Generalsekretär des Großhändlerverbands, stimmt da ein: Die Reform werde zu einer Verteuerung von Medikamenten sowie einer Verschlechterung der Dienstleistungen in den Apotheken führen. „Das derzeit hohe Niveau von Apothekendienstleistungen wird durch jährliche Revisionen der staatlichen Arzneimittelagentur sichergestellt. Bei diesen fallen Defizite eher bei kleinen Apotheken auf, die über keine unterstützenden Strukturen verfügen“, so Torgo. Die Reform werde deshalb zu unvorhersehbaren Risiken für die Volksgesundheit führen und sich negativ auf die Verfügbarkeit von Arzneimitteln auswirken.
In der Regierung sowie in Apothekerkammer und -verband sieht man das naturgemäß anders. „Diese Apothekenreform ist unerlässlich, um Pharmazeuten zurück ins Gesundheitssystem zu holen“, sagt der estländische Gesundheitsminister Tanel Kiik. Die Auflösung potentieller Interessenkonflikte sowie die neuen Möglichkeiten zum Aufbau eigener Betriebe werde viele Pharmazeuten ermutigen, sich selbstständig zu machen. „Nur wenn sie unabhängig von den Interessen der Großhändler sind, ist es den Apothekern möglich, sich auf die Bedürfnisse der Patienten zu konzentrieren“, so Kiik. Die Verfügbarkeit von Arzneimittel sicherzustellen, sei Aufgabe des Staates, erwiderte er dem Großhändlerverband.
In Estland wurde der Apothekenmarkt in den letzten 20 Jahren mehrmals auf den Kopf gestellt. So hatte es ab 2006 eine Bedarfsplanung gegeben, die die Landversorgung stärken sollte: So war es nicht möglich, neue Apotheken in Gebieten zu eröffnen, in denen bereits weniger als 3000 Einwohner von einer Apotheke versorgt wurden. In ländlichen Gegenden konnte dagegen eine neue Apotheke oder eine Filiale eröffnet werden, solange sie mindestens einen Kilometer von einer bestehenden entfernt lag. Der Oberste Gerichtshof kippte diese Regelung im Dezember 2013: Sie sei verfassungswidrig, da sie die Freiheit, ein Geschäft zu führen, einschränke.
Trotz mehrfach wechselnder Rahmenbedingungen gilt Estland in Europa als eines der Vorzeigeländer für die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Bereits seit 2010 wird in der kleinen Republik elektronisch verordnet. Alle Informationen zur Pharmakotherapie landen in der Patientenakte auf einem Server des staatlichen Krankenversicherungfonds; nur Patienten, Ärzte und Apotheker haben Zugriff auf die Daten. Seit Jahresbeginn läuft darüber hinaus sogar ein Projekt zur finnisch-estländischen Zusammenarbeit: Finnen können seit Mitte Januar E-Rezepte in estländischen Apotheken einlösen.
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