Inzidenz trotz Lockerungen rückläufig

Corona in Großbritannien: Die Hoffnung nach dem Knick in der Kurve

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London -

In England sind die Masken gefallen. Doch trotz etlicher neuer Freiheiten gingen die Corona-Zahlen tagelang zurück. Die große Frage ist nun, ob der überraschende Trend anhalten wird.

Nachdem Boris Johnson seine Landsleute am 19. Juli mit der Aufhebung fast aller Corona-Beschränkungen in England in die Freiheit entließ, konnte man mit vielem rechnen. Eins jedoch erwartete eigentlich niemand: dass die Infektionszahlen fallen würden. Selbst Gesundheitsminister Sajid Javid hatte es als „unvermeidlich“ bezeichnet, dass der „Freedom Day“ einen Anstieg nach sich ziehen würde. Doch es kam erst einmal anders.

Rund eine Woche lang ging die Zahl der Neuinfektionen lang stetig zurück. Zuletzt wurden mit rund 30.000 Neuinfektionen zwar wieder etwas mehr Fälle gezählt als in den Tagen zuvor. Allerdings liegt diese Zahl noch immer deutlich unter dem Niveau der Vorwoche und weit unter den Prognosen von Experten wie dem Epidemiologen Neil Ferguson, der schon in naher Zukunft 100.000 bis 200.000 Fälle pro Tag erwartete. Und so starrte das Land recht ungläubig auf den überraschenden Verlauf der Infektionskurve.

Während Fachleute davor warnen, dass der Knick in der Kurve nur eine zeitweise Schwankung sein könnte, wirft der regierungsnahe „Telegraph“ bereits der Wissenschaft vor, mit ihren Warnungen übertrieben zu haben. Woran der Rückgang tatsächlich liegt, vermag bisher niemand sicher zu sagen. Es gibt jedoch mehrere Vermutungen.

Die Bilder von prall gefüllten Tanzflächen in den englischen Nachtclubs gingen um die Welt – doch sie sind nur ein Teil der Wahrheit. In einer aktuellen Umfrage im Auftrag des Online-Portals Politico gab mehr als die Hälfte von 1500 Befragten an, weiterhin große Menschenansammlungen zu meiden und freiwillig weiterhin Maske zu tragen. 46 Prozent waren der Meinung, das Ende der Maßnahmen sei „zu früh” gekommen. So könnte die Eigenverantwortung der Menschen, an die auch Johnson immer wieder appelliert, einen entscheidenden Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben.

Auch die Fußball-EM – beziehungsweise viel mehr ihr Ende – könnte eine Rolle spielen. Etliche Public Viewing-Veranstaltungen, Reisen und die Spiele in Wembley mit Zehntausenden Zuschauern lagen zeitlich so, dass sie den massiven Anstieg der Corona-Zahlen, die in der Spitze der aktuellen Welle 60 000 Fälle überstiegen, beschleunigt haben könnten. Eine Auswertung der „Financial Times“ belegt, dass sich vor allem viele jüngere Männer zwischen 20 und 34 ansteckten, was daraufhin deuten könnte, dass dies bei oft männlich dominierten Fußball-Events passiert ist. In Schottland, dessen eigene Mannschaft schnell aus dem Turnier flog, begann der Rückgang zudem früher.

Die große Hoffnung ist jedoch, dass der ersehnte Rückgang auch zu einem großen Teil auf den Schutz durch Impfungen zurückgeht. Diese waren allerdings in die vorherigen Prognosen einbezogen. Rechnet man Kinder und Jugendliche mit ein, sind zudem erst gut 56 Prozent der Briten vollständig geimpft. Das lässt immer noch etliche Millionen von Menschen zurück, bei denen das Virus ein leichteres Spiel hat. Die Behörde Public Health England schätzt immerhin für die englischen Erwachsenen, dass etwa neun von zehn mittlerweile einige Antikörper in sich tragen – entweder durch eine Impfung, oder, weil sie eine Corona-Infektion überstanden haben.

Dennoch bleibt die Sorge, dass dem Knick in der Kurve bald ein weiterer folgen könnte und die Zahlen wieder ansteigen. In der Infektionsstatistik des Office for National Statistics, für die jede Woche eine repräsentative Auswahl an Briten getestet wird, zeichnet sich der Rückgang außer in Schottland noch nicht ab, allerdings reichen die jüngsten Zahlen auch nur bis zum 24. Juli. Die Zahlen könnten mittelfristig Aufschluss darüber geben, ob sich tatsächlich weniger Menschen anstecken oder nur – etwa wegen der Sommerferien – weniger getestet werden.

In der Downing Street im Londoner Regierungsviertel gibt man sich bislang zurückhaltend, obwohl die Hoffnung groß sein dürfte, dass das riskante Experiment namens „Freedom Day“ ohne größere Katastrophe über die Bühne geht. Es sei noch zu früh, sich zu entspannen, sagte Boris Johnson vor einigen Tagen. „Die Menschen müssen vorsichtig bleiben und das bleibt auch der Ansatz der Regierung.“

Zu groß ist noch die Sorge, dass der englische Weg aus dem Lockdown, den Johnson selbst als „vorsichtig, aber unumkehrbare“ anpreist, am Ende doch noch eine Kehrtwende nach sich zieht. Genau das konnte man zuletzt in den Niederlanden beobachten, wo nach einem heftigen Anstieg der Fallzahlen die gerade erst geöffneten Nachtclubs wieder schließen mussten. Aktuell versprechen die Sommerferien in England weitere Entlastung. Doch auch diese werden in ein paar Wochen enden.

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