National Health Service NHS

Britisches Gesundheitssystem in der Krise

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London -

„Sie hätten mal vor Kurzem die Lage im Royal Blackburn Hospital sehen müssen. Die Flure waren voll mit wartenden Menschen“, berichtet Louise Heppelstone. „Die Krankenschwestern waren zu beschäftigt, um sich um die älteren Patienten zu kümmern. Einige mit Gehproblemen schafften es nicht allein auf die Toilette und nässten sich im Gang ein. Entsetzlich. Und so etwas passiert jeden Winter.“

Die Hände der 58-Jährigen schließen sich fester um das Schild, auf dem „Mehr Personal, mehr Betten, mehr Geld“ geschrieben steht. Sie ist eine von Tausenden Demonstranten, die dem Londoner Regen trotzen und am Samstagnachmittag vor der Downing Street, dem Wohnsitz von Premierministerin Theresa May, gegen den Verfall des staatlichen Gesundheitssystems NHS (National Health Service) demonstrieren.

Im Juli wird der vorwiegend über Steuergelder finanzierte Gesundheitsdienst 70 Jahre alt. Und schon immer war die Lage im Winter prekär. In diesem Jahr ist es jedoch besonders schlimm. Landesweit fehlen in vielen staatlichen Krankenhäusern Betten. Britische Medien berichten über Patienten, die vernachlässigt in Klinikfluren sterben und Rentnern, die nach Stürzen stundenlang allein zu Hause auf einen Krankenwagen warten müssen.

Im Januar verschob der NHS Zehntausende von Operationen, selbst Krebspatienten waren betroffen. May entschuldigte sich öffentlich: „Ich weiß, es ist schwierig. Ich weiß, es ist frustrierend.“ Ärzte von Dutzenden Kliniken kritisierten in einem Brief „nicht mehr akzeptable Zustände“ in Notfallaufnahmen. Eine Stellungnahme vom NHS zu den Vorwürfen war auf Anfrage nicht zu erhalten.

In vielen Krankenhäusern mangelt es an grundlegendem medizinischem Equipment und Personal. Nach Angaben der Ärztegewerkschaft British Medical Association (BMA) mussten 2017 mehr Patienten auf Krankenhausbetten liegend auf eine Behandlung warten als 2012, 2013 und 2014 zusammen, die Wartezeiten seien die längsten seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Anzahl der Patienten, die wegen Überlastung abgewiesen werden mussten, habe ein historisches Hoch erreicht, klagt BMA-Präsident Chaand Nagpaul: „Die Regierung muss jetzt handeln.“

Im Winter belasten wegen Grippewellen und anderer Krankheiten mehr Menschen das Gesundheitssystem - das ist auch in Deutschland so. Die dramatische Situation des NHS hat jedoch mehrere Gründe. Nach einer Studie der britischen Denkfabrik The King's Fund wurden in den vergangenen Jahren immer mehr Hausarzt-Praxen (General Practicioner oder kurz GP) geschlossen. Deren Patienten müssten nun für kleinere Behandlungen in Kliniken – und belasten so zusätzlich das System.

Zudem wurde The King's Fund zufolge trotz Bevölkerungswachstums die Zahl der Betten in NHS-Kliniken in England in den vergangenen 30 Jahren halbiert: von knapp 300.000 Betten auf rund 142.000. Ein weiterer Grund für die Gesundheitskrise sei die alternde und vereinsamende Bevölkerung. Nach der Studie wurden die staatlichen Mittel für die Versorgung von Senioren zu Hause ebenfalls deutlich gekürzt. Dies führe dazu, dass viele alte Menschen ins Krankenhaus kommen, obwohl sie bei vernünftiger Pflege auch zu Hause bleiben könnten.

Nach Angaben des Britischen Roten Kreuzes ist die Zahl der Alleinstehenden über 75 in den vergangenen 20 Jahren um 27 Prozent gestiegen. Viele von ihnen kommen mit Sturzverletzungen ins Krankenhaus und werden nach kurzer Zeit wieder entlassen. Doch zu Hause können sich etliche oft nicht selbst versorgen. Jeder fünfte Patient komme nach einer Entlassung innerhalb von 48 Stunden wieder zurück. Mike Adamson, Chef des Britischen Roten Kreuzes, sagt: „Hausbesuche könnten den Fluss dieser Patienten in und aus Krankenhäusern enorm reduzieren und damit viele Betten frei machen.“

Auch der geplante Brexit zeigt erste Folgen. Denn viele Ärzte und Pflegekräfte kommen aus dem europäischen Ausland. Zahlreiche
Mediziner spielen mit Blick auf den EU-Austritt Großbritanniens einer BMA-Umfrage zufolge mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Und die Zahl der Krankenschwestern und -pfleger sowie Hebammen aus anderen EU-Ländern, die in Großbritannien arbeiten wollen, ging seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 um knapp 90 Prozent zurück. Dabei sind Zehntausende Stellen schon heute in Großbritannien unbesetzt.

Trotz jährlicher Winterkrise wollen viele Briten den NHS behalten. Einige fürchten, dass die Regierung den Gesundheitsdienst absichtlich vor die Wand fahre, um der Öffentlichkeit ein privates System nach dem Vorbild der USA schmackhaft zu machen. So demonstrierten viele in London auch gegen eine Privatisierung des Gesundheitssystems.

Louise Heppelstone wurde vor zwei Jahren mit einem Aneurysma im Gehirn in ein NHS-Krankenhaus eingeliefert. Nach einer vierstündigen Operation setzten die Ärzte ihr einen Stent ein, der die Blutung im Hirn stoppte. Sie sagt: „Ich verdanke dem NHS mein Leben und musste nicht einen Penny bezahlen. Ohne unser staatliches Gesundheitssystem wäre ich jetzt tot. Diese OP hätte ich mir niemals leisten können.“

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