Großbritannien

Brexit: Regierung will Medikamente bunkern

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Berlin -

Die britische Regierung hat zugegeben, dass sie mit der Einlagerung von Notreserven an Arzneimitteln und Medizinprodukten begonnen hat. Damit will sie sich auf den zunehmend realistischen Fall vorbereiten, dass Großbritannien ohne ein Austrittsabkommen die EU verlassen könnte. Innerhalb weniger Tage könnte es dann nämlich zu dramatischen Engpässen kommen.

Es klingt wie die Vorbereitung auf ein apokalyptisches Szenario: Die Regierung ordnet an, an wichtigen Infrastruktur-Knotenpunkten Lager zu errichten, in denen Lebensmittel, wichtige Bedarfsgüter, Arzneimittel und Medizinprodukte bevorratet werden. Hinzu kommt die „Operation Brock“: Die Autobahn M20 von London nach Dover wird halbseitig gesperrt, um als Warterampe für die LKW auf dem Weg zum wichtigsten britischen Hafen zu dienen.

In London und Brüssel rechnen offenbar immer mehr Beamte und Politiker damit, dass dieses Szenario eintreten könnte. Denn die politischen Entwicklungen der vergangenen Wochen haben beide Seiten eher von einem tragfähigen Austrittsabkommen entfernt als näher gebracht. Kommt es aber in den Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU nicht bald zu einem entscheidenden Durchbruch, dann würde das Vereinigte Königreich Ende März 2019 ohne Übergangsfrist aus der Union fallen – begleitet von einer langen Reihe ernster Konsequenzen.

Den Flugverkehr könnte das lahmlegen, Lieferketten könnten abreißen, Millionen Menschen hätten über Nacht keinen geregelten Aufenthaltsstatus mehr. Besonders fatal wären die Folgen bei Arzneimitteln. Sir Michael Rawlins, Präsident der britischen Arzneimittelbehörde MHRA, räumte in einem Interview am Freitag offen ein, wie verwundbar Großbritannien in diesem Punkt ist.

Britische Medien mutmaßen, dass es bei entscheidenden Medikamenten innerhalb von 24 Stunden zu Engpässen kommen könnte. Rawlins kann das nicht dementieren. „Nur ein Beispiel: Wir produzieren kein Insulin in Großbritannien. Wir importieren jeden einzelnen Tropfen“, erklärte er dem Pharmaceutical Journal. „Insulin kann man aber nicht einfach so umherfahren, das muss temperaturgeführt transportiert werden. Und es gibt hier 3,4 Millionen Menschen, die das benötigen, nicht zuletzt die Premierministerin.“

Die Unterbrechung von Lieferketten durch die zwangsweise Einführung von Zollgrenzen und -kontrollen über Nacht könne insbesondere auf die Arzneimittelversorgung verheerende Auswirkungen haben. „Das könnte Wirklichkeit werden, wenn wir uns nicht am Riemen reißen. Wir können ja nicht über Nacht anfangen, Insulin herzustellen – das muss geklärt werden, keine Frage.“

Aus Herstellerkreisen wurde in den vergangenen Wochen bereits bekannt, dass Vorkehrungen für den Worst Case getroffen werden: AstraZeneca kündigte an, seine Bestände sowohl in Großbritannien als auch der restlichen EU um jeweils 20 Prozent aufzustocken. MSD wiederum plant, einen Arzneimittelbestand von bis zu sechs Monaten vorzuproduzieren und einzulagern, um für Produktionsengpässe gewappnet zu sein. Außerdem soll eine neue Abteilung eingerichtet werden, in der 30 Zoll- und Handelsrechtsexperten mit neuen regulatorischen Hürden umgehen und entstehende Fragen klären.

Die Frage des Pharmaceutical Journal war kein Alarmismus. Unmittelbar vor dem Interview mit Rawlins war Gesundheitsminister Matt Hancock vom dem Gesundheitsausschuss des Unterhauses zum Stand der Brexit-Verhandlungen befragt worden. Dabei gab er zu, dass die Regierung bereits Vorbereitungen für einen No-Deal-Brexit treffe und er sich schon mit den Geschäftsführungen von Arzneimittelherstellern getroffen hat, um mögliche Schritte einzuleiten. „Wir arbeiten quer durch die Regierung daran, dass der Gesundheitssektor und die Industrie im Falle eines No-Deal-Brexits vorbereitet sind und die Gesundheit der Bürger geschützt wird“, so Hancock, der sein Amt erst Beginn der vorvergangenen Woche antrat, nachdem Außenminister Boris Johnson wegen Uneinigkeiten über die Brexit-Strategie zurücktrat und Hancocks Vorgänger Jeremy Hunt sein Amt übernahm.

„Das beinhaltet auch die Versorgung mit Arzneimitteln, Impfstoffen, Medizintechnik, klinischen Verbrauchsgütern und Blutprodukten“, erklärte der Tory. „Wir arbeiten gemeinsam mit den Herstellern daran, für den Fall eines Brexits ohne Abkommen die notwendigen Reserven einzulagern.“ Ein besonderes Problem seien dabei Präparate mit geringer Haltbarkeitsdauer, denn die sind ganz besonders auf funktionierende Lieferketten angewiesen.

Sarah Wollaston, Parteifreundin von Hancock und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, wollte sich damit jedoch nicht zufrieden geben. „Es geht hier nicht nur darum, Vorräte anzulegen. Es gibt auch Produkte, die kann man nicht einlagern“, kritisierte sie. „Der Gesundheitsdienst verbraucht jährlich rund 700.000 diagnostische Tests, für die man medizinische Radio-Isotope benötigt. Die haben eine sehr kurze Haltbarkeit, sodass man sie nicht einlagern kann. Sie werden aber auch nicht hierzulande produziert.“

Damit es erst gar nicht so weit kommt, dass diese Frage geklärt werden muss, strebt die britische Regierung an, Mitglied der europäischen Arzneimittelagentur EMA zu bleiben. Die Idee, gegen Zahlung weiter Teil von wichtigen EU-Behörden zu bleiben, steht im Weißbuch, das Premierministerin Theresa May vergangene Woche gegen harte Widerstände durchs Parlament gepeitscht hatte. Bei der EMA selbst scheint man dennoch mit Bange auf den kommenden März zu schauen. Die Behörde ist „ernsthaft besorgt“, dass mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU mehr als 100 Medikamente ihre Zulassung verlieren könnten und appelliert deshalb an die Hersteller, endlich zu handeln. 694 zentral zugelassene Produkte gebe es, bei denen mindestens ein unverzichtbarer Bestandteil im Vereinigten Königreich zu verorten ist.

Dabei handelt es sich größtenteils um Produkte von Herstellern mit Hauptsitz in Großbritannien oder solchen, die beispielsweise Produktionsstätten oder Qualitätskontrollen auf der Insel haben. Werden deren Zulassungen oder zu benennende Funktionen nicht fristgerecht übertragen, erlischt ihre Gültigkeit mit dem Austritt Großbritanniens aus dem europäischen Binnenmarkt. Deshalb will die Behörde die Ummeldungsprozesse nun genau überwachen.

Auch MHRA-Präsident Rawlins würde Großbritannien gern weiter in der EMA sehen. „Das ideale Szenario wäre das, was man eine assoziierte Mitgliedschaft in der EMA nennt“, sagte er dem Pharmaceutical Journal. Dabei hätte Großbritannien kein Stimmrecht, könnte aber seine Anliegen vortragen, wissenschaftliche Erkenntnisse einbringen und wäre bei allen wichtigen Sitzungen vertreten. „Wir könnten nicht abstimmen, aber meine Kollegen sagen mir, dass das nicht wichtig ist – denn es geht darum, dass wir unsere Ansichten wiedergeben können, denen genau zugehört wird, und wir dann am Ende die Entscheidungen der EMA akzeptieren, egal wie diese aussehen.“

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