Brexit bedroht Pharmaindustrie APOTHEKE ADHOC/dpa, 17.06.2016 15:14 Uhr
Bleiben oder nicht: Am kommenden Donnerstag entscheiden die Briten über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union (EU). „Brexit“ würde den Austritt bedeuten – und der hätte merkliche Auswirkungen auf die britische Pharmaindustrie. Mehrere Szenarien wären vorstellbar. Bei den Herstellern überwiegen aber die Argumente für einen Verbleib. Die deutsche Industrie wird den Ausgang des Referendums genau beobachten. Denn für sie steht angesichts der engen Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien viel auf dem Spiel.
Bleibt Großbritannien in der EU, gilt weiterhin die berufliche Freizügigkeit und der freie Handel. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) wird in diesem Fall auch zukünftig die Richtlinien für Präparate auf dem europäischen Markt vorgeben. Die Behörde könnte zudem ihren Sitz in London behalten. Ein Umzug aus der britischen Metropole bei einem möglichen Brexit wäre zwar nicht ausgeschlossen – Schweden hat bereits Interesse angemeldet. Die EMA will allerdings nicht über den Ausgang des Referendums oder mögliche Umzugspläne spekulieren.
Entscheiden sich die Briten hingegen für den Austritt aus der EU, gäbe es mehrere Optionen für die Regierung. Sie könnte im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bleiben. Dann aber nicht als EU-Mitglied, sondern wie beispielsweise Norwegen als Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Somit wäre der Zugang zum europäischen Binnenmarkt vorausgesetzt.
Dass Großbritannien ökonomisch abhängig vom europäischen Binnenmarkt bleibt, ist dabei kein Geheimnis. Deutsche Chemiefirmen zum Beispiel hatten laut dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) im vergangenen Jahr Waren für 5,6 Milliarden Euro von der Insel bezogen, vor allem pharmazeutische Produkte und Petrochemikalien. Deutsche Chemieprodukte im Wert von 12,9 Milliarden Euro wurden nach Großbritannien exportiert.
Zudem würde die Pharmaindustrie bei einem Brexit weiterhin an den EU-Gesetzen hängen. Die Hersteller hätten jedoch keinen Einfluss mehr auf deren Ausgestaltung. Die Entscheidungen in Brüssel würden so oder so die britische Wirtschaftspolitik berühren. Die EU-Fälschungsrichtlinie beispielsweise soll in ganz Europa die Einhaltung der Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln gewährleisten. Gefälschte Medikamente sollen somit ab Februar 2019 aus dem Verkehr gezogen werden. Der Marktzugang für britische Präparate würde sich erschweren: Das beginnt mit Sicherheitshinweisen auf Verpackungen und endet bei strengerer Berichterstattung des Großhandels.
Der Brexit hätte zudem Folgen für die Forschung des Landes: Großbritannien wäre von EU-finanzierten, wissenschaftlichen Forschungsprogrammen ausgeschlossen. Darunter würden Nachwuchswissenschaftler und Fachkräfte leiden, die eventuell ihr Glück im Ausland suchen. Großbritannien würde außerdem der Zugang für das zentrale EU-Antragssysten für klinische Studien (EU Clinical Trials Regulation) verwehrt. Hersteller, die auf der Insel neue Präparate testen und prüfen lassen wollen, werden sich gut überlegen, ob sie den bürokratischen Aufwand auf sich nehmen.
Ein möglicher Austritt hätte allgemein Auswirkungen auf den staatlichen Gesundheitsdienst (NHS) und auf die Gesellschaft. Der britische Premierminister David Cameron befürchtet sogar ein „schwarzes Loch“ für den Haushalt, sollten sich die Briten für den Brexit entscheiden, berichtet der Guardian. 40 Milliarden Pfund weniger in der Staatskasse würden auch Kürzungen im Gesundheitsbereich bedeuten.
Cameron war es, der im Januar 2013 das Referendum ankündigte – unter Vorbehalt, zu dem Zeitpunkt der Entscheidung noch an der Macht zu sein. Am 20. Februar gab er den offiziellen Termin für den Volksentscheid bekannt. Er selbst ist gegen den EU-Austritt seines Landes.
Großbritannien trat 1973 der sogenannten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Schon damals war dieser Schritt beim Volk und im Parlament umstritten. Margaret Thatcher, Premierministerin von 1979 bis 1990, war zwar für die ökonomischen Vorteile der Mitgliedschaft, aber gegen die politische Union, gegen die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“. Das britische Königreich behielt sich jahrelang in den Verhandlungen mit der EU stets Sonderrechte (Opt-outs) vor: So verzichtete die Regierung in der Vergangenheit auf den Euro als Währung und auf den Beitritt zum Schengenraum.
Die britischen Wähler dürfen am kommenden Donnerstag folgende Frage beantworten: „Sollte das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?“ Die Kreuze auf den Stimmzetteln entscheiden über die Zukunft der Insel. Der Ausgang des Volksentscheid wird demnach mit Spannung erwartet – vor allem von den Herstellern in und außerhalb Europas.