Bitte halten Sie endlich Abstand! APOTHEKE ADHOC, 29.05.2017 14:30 Uhr
Neugierde ist eine der wichtigsten menschlichen Eigenschaften – aber in der Apotheke ist sie fehl am Platz. Wenn Patienten über ihre Krankheiten sprechen, wird niemand gern belauscht. In Südtirol rückten jetzt die Experten der Verbraucherzentrale aus, um die Diskretion in Apotheken zu testen. Das Ergebnis ist niederschmetternd: In kaum einer Apotheke funktioniert ein vertrauliches Gespräch.
Jeder kennt die Situation: Man hat Durchfall oder etwas Schlimmeres und möchte das diskret mit dem Apotheker besprechen. Da spürt man die Handtasche eines Wartenden im Rücken. Oder, noch schlimmer, jemand lauscht offenkundig mit. 2016 führte die Verbraucherzentrale Südtirol (VZS) Stichproben bezüglich des Diskretionsabstandes in 15 ausgewählten Apotheken durch, jetzt wurde neuerlich getestet.
Das Ergebnis vor einem Jahr: In nur einer der 15 Apotheken befand sich eine Bodenmarkierung, die auf den gewünschten Abstand hinwies. In zwei weiteren Apotheken war ein Schild angebracht, das die Kunden auf die Einhaltung eines ausreichenden Abstandes hinwies. In den übrigen zwölf Apotheken war es schwierig für Kunden, ein Gespräch unter Wahrung der Diskretion zu führen.
Die VZS-Tester prüften auch, ob man beim Bedrängen des Vordermannes vom Apotheker gebeten wurde, freundlicherweise einen gebührenden Abstand einzuhalten. Fazit: In allen 15 getesteten Apotheken konnten die anonym auftretenden Prüfer problemlos alle Details mithören. Es gab keine Bitten des Apothekenpersonals bezüglich eines Abstandes.
Der aktuelle Test wurde um sechs große Apotheken in der Landeshauptstadt Bozen erweitert. Ergebnis: Die Situation hat sich ein wenig verbessert, ist aber immer noch nicht zufriedenstellend. Jetzt hängt in sieben Apotheken zwar ein Schild, aber nur in einer war es leicht ersichtlich, in den übrigen ging es optisch zwischen Werbe- und Preisaufklebern unter. Auch die vier Bodenmarkierungen erfüllten ihren Zweck nicht, da sie zu nahe am HV-Tisch angebracht waren. Nur eine Apotheke erfüllte die Vorstellung der Tester optimal. Wieder war es in keiner der getesteten Apotheken ein Problem, die Gespräche vor einem mitzuhören.
Walther Andreaus, Geschäftsführer der VZS, gegenüber „Südtirol Online“: „Die Vertraulichkeit in den Apotheken sollte nicht länger missachtet werden. Besonders an der Stelle, an der Medikamente an Kunden abgegeben werden. Da braucht es einen Mindestabstand zwischen den Bedienplätzen und zwischen Bedienplatz und wartenden Kunden. Da Aufrufe anscheinend nicht gehört werden, ist ein behördliches Einschreiten unverzichtbar. Den Apotheken wird die Rute ins Fenster gestellt. Das nächste Mal hagelt es Eingaben.“
In Südtirol empfiehlt man Konsumenten drei Punkte, wenn es um Diskretion geht: Erstens soll man den Diskretionsabstand selbst einhalten, zweitens den Apotheker darauf hinweisen, dass es sich um ein vertrauliches Gespräch handelt und man ihn unter vier Augen sprechen möchte. Der dritte Rat: Patienten sollen in einem der Situation angemessenen Ton sprechen oder das Problem auf ein Blatt Papier schreiben und es dem Apotheker zeigen.
Nicole Uibo ist Apothekerin in der Dr.Peer Albrecht Apotheke in Mühlbach. Sie kennt die Schwachstellen der Diskretion aus ihrem Arbeitsalltag und sagt: „Ich arbeite in einer Dorfapotheke, die Räume sind klein. Deshalb kommt es immer wieder zu Situationen, in denen die Diskretion nicht gewährleistet ist. Wenn fünf bis zehn Menschen da sind, ist es einfach voll, aber ich kenne noch kleinere Apotheken.“ Wenn die Diskretion gefährdet scheint, hat sie ihre kleinen Tricks: „Ich versuche dann, möglichst leise zu sprechen, Packungen auch mal umzudrehen, damit man die Aufschrift nicht sieht.“
Insgesamt unterstellt sie den Patienten allerdings keinen bösen Willen und agiert mit Charme und Diplomatie: „Viele sind im Stress, wollen einfach schnell drankommen. Ich glaube nicht, das sie lauschen wollen. Und da wir auch viele ältere Kunden haben, die nicht so gut hören, muss man lauter sprechen. Wenn ich merke, dass jemand zu nahe am nächsten Kunden ist, sage ich sehr freundlich: ‚Sie kommen gleich dran!'
Uibo fordert gleichzeitig aber auch ein wenig mehr Respekt von den Kunden: „Vertrauen ist für mich oberstes Gebot, sonst funktioniert ein gutes Verhältnis zwischen Kunde und Apotheker nicht. Abstandsschilder oder Striche am Boden wie zum Beispiel in der Bank sind nützlich. Man möchte aber auch, dass die Kunden selbst ein bisschen Einfühlungsvermögen und Respekt gegenüber den anderen an den Tag legen und Abstand halten.“
Auch in Deutschland ist das Thema Diskretion ein Dauerthema in der Apotheke. Von Von den durchschnittlich 200 Produkten hinter dem HV-Tisch erfordert laut einer Untersuchung jedes vierte eine diskrete Beratung. Immer wieder gibt es daher Initiativen, die das vertrauliche Gespräch zwischen Apotheker und Patienten gewährleisten sollen.
Bei der Apothekenkooperation Avie setzt man seit zwei Jahren auf ein Schallschutzkonzept, das als Zusammenspiel unterschiedlicher, teils einfachster Maßnahmen funktioniert: Spezielle Schallschutzplatten über dem HV-Tisch absorbieren Geräusche. Kaum wahrnehmbare Hintergrundmusik sorgt für Entspannung und lässt sich bei Bedarf während des Kundengesprächs direkt am Verkaufsplatz hochregeln. Außerdem gibt es Einschnitte im HV-Tisch, die für eine geringere Distanz zwischen Mitarbeiter und Kunde und damit für geringere Lautstärkepegel sorgen. Die Idee dazu stammte von Firmenchef Edwin Kohl selbst, seine Erfindung hat er sich sogar patentieren lassen.
Eine andere gute Idee kommt von Matthias Bußmann aus Ahlen. Mit Kollegen hat er die „Apotheke ohne Handverkaufstisch“ entwickelt, mit der innovativen Idee gewann er den zweiten Platz bei den VISION.A Awards in der Kategorie APO.Vision. Nach dem Umbau seiner Park-Apotheke gibt es jetzt Beratungsinseln, an denen Kunde und Mitarbeiter nebeneinander stehen. Eine Sichtwahl gibt es nicht, stattdessen werden die Produkte auf einem Videobildschirm sowie auf einem in den Tisch eingelassenen Display präsentiert. „Wir haben den klassischen Abkassier-Tresen abgeschafft und setzen auf Diskretion anstatt Frontal-Beratung.“ Ohne Umbau geht es bei Linda: Die Kooperation hat vor vier Jahren einen „Diskretionsbutton“ erfunden. Damit sollen die Patienten unauffällig darauf hinweisen können, dass sie ein Gespräch unter vier Augen wünschen. Abstandshalter auf dem Boden und ein separater Beratungsbereich sollen für eine vertrauliche Atmosphäre sorgen.