Amazon hat das Start-up Health Navigator gekauft. Es ist nach der Versandapotheke PillPack die zweite Akquisition im Gesundheitsbereich – und könnte eine zentrale Rolle in den Plänen des Internetriesen spielen, den Arzneimittelmarkt umzukrempeln. Denn Health Navigator arbeitet an entscheidenden Schnittstellen im Gesundheitswesen.
Der Zukauf kommt vorerst nur einem sehr ausgewählten Kreis an Menschen zugute: Amazon-Mitarbeitern aus dem Raum Seattle und ihren Familienangehörigen. Health Navigator soll voll in das neue Gesundheitsprogramm Amazon Care integriert werden; das wird seit September am Hauptstandort des Konzerns erprobt und beinhaltet im Wesentlichen ein umfassendes telemedizinisches Angebot. Per App, Live-Chat oder Video können sich Patienten ärztlich beraten lassen oder persönliche Konsultationen vereinbaren. Auch ein Arzneimittelversand ist integriert, die Lieferung ist sowohl nach Hause als auch in eine Apotheke möglich.
Der Arzneimittelversand wird parallel dazu ebenfalls ausgebaut: Nicht nur nehmen mittlerweile auch Apothekenketten wie Health Mart an Amazons Programm „Counter“ teil – dienen also als Abhol-Filialen für bestellte Pakete. Auch Pillpack selbst wird derzeit offenbar massiv ausgebaut. Knapp 50 Stellenausschreibungen finden sich derzeit auf Amazons Pillpack-Seite, gesucht wird so ziemlich alles von Apothekern über Programmierer bis zu Finanzmanagern.
Doch entwickelt sich Branchenbeobachtern zufolge nicht alles nach Plan: Der Widerstand der etablierten Player ist härter, als man es sich in Seattle wohl ausgemalt hat. Dazu gehört auch der Gerichtsprozess, als dessen Resultat es Amazon untersagt wurde, John Lavin zu rekrutieren, einen ehemaligen Spitzenmanager der CVS-Tochter Caremark, einem Pharmacy Benefit Manager (PBM), die in den USA maßgeblich die Preisbildung bei Arzneimitteln steuern.
Im Rahmen des Prozesses war öffentlich geworden, dass Amazon bereits mit einigen der größten Krankenversicherer der USA über Rabattverträge für Arzneimittel verhandelt. Genau an diesen Schnittstellen – Versicherungen, Ärzte, Arzneimittelhersteller und -versand – setzt nun die jüngste Akquisition des Konzerns an. Denn das Kerngeschäft von Health Navigator sind Programmierschnittstellen, kurz: API. Das gerade einmal gut ein Dutzend Mitarbeiter große Unternehmen ist darauf spezialisiert, telemedizinische Plattformen und andere Anwendungen zu standardisieren und integrieren. Vereinfacht gesagt: dafür zu sorgen, dass Teledoktor, Online-Apotheke und Krankenversicherung reibungslos Hand in Hand arbeiten.
Offensichtlich hatte Amazon auf dem Gebiet bereits gute Erfahrungen mit Health Navigator gemacht. Vergangenes Jahr hatte sich das Start-up mit der Unternehmensberatung Macadamia für ein Projekt zur Anwendung von Amazons Sprachassistent Alexa in der Gesundheitsversorgung zusammengetan. Anfang Oktober 2018 hatte Amazon das Patent für eine KI-gestützte Diagnoseanwendung erhalten, mittels der Alexa Krankheitssymptome wie Husten oder einen trockenen Hals, aber auch Anzeichen von ernsthafteren Erkrankungen, erkennen kann.
Daraufhin soll die sprechende Box den Anwender basierend auf der Auswertung von Nutzerdaten Produktvorschläge machen – genauer gesagt: Werbung. Die mögen sich bei Bagatellkrankheiten hauptsächlich auf OTC- oder Freiwahlprodukte beschränken. Allerdings, so führt der Konzern in seinem Patentantrag aus, sei die KI bereits heute in der Lage, durch Abweichungen vom normalen Stimmverlauf auch schwerwiegendere emotionale Veränderungen wie Depressionen festzustellen.
Den nächsten Schritt zu denken, fällt nicht schwer: Die Kopplung von Telemedizin an Alexa und schlussendlich auch die Bestellung und der Versand rezeptpflichtiger Arzneimittel. Dass ein solches Angebot auf fruchtbaren Boden fallen würde, lässt sich jetzt schon sehen: In Großbritannien ist die medizinische Erstberatung durch Alexa bereits seit diesem Sommer Regelleistung des staatlichen Gesundheitssystems NHS – genauso wie telemedizinische Angebote. Dass auch hierzulande bereits ein Alexa-Skill verfügbar ist, über den Nutzer bei der Kooperation Pillentaxi einen Boten zur Rezeptabholung bestellen können, ist da nur ein weiteres Moasiksteinchen.
Health Navigator wiederum könnte nun ein zentrales Element sein. Denn indem es die entscheidenden Schnittstellen programmiert, könnte das Start-up die bisherigen Insellösungen zusammenführen. „Amazon will nach meiner Wahrnehmung möglichst viele Datenquellen entlang des gesamten Behandlungskontinuums besetzen“, zitiert das Handelsblatt Sven Jungmann, Chef der Gesundheitssparte beim Corporate-Venture-Builder Founderslane. Dabei sei das Ziel höchstwahrscheinlich, die Entwicklung einer datengetriebenen End-zu-End-Versorgung.
Dabei beschleunigt der Aufkauf von Unternehmen wie Health Navigator nicht nur die eigene Entwicklung, sondern hat auch den Nebeneffekt, dass deren Know How nicht der Konkurrenz zugutekommt. Zu den Kunden des 2014 gegründeten Start-ups zählen laut CNBC US-Gesundheitsunternehmen wie TytoCare, Avizia oder MDLive, aber auch Softwaregigant Microsoft. Und der sitzt wiederum mit der Apothekenkette Walgreens in einem Boot. Sie alle müssen in Zukunft wohl auf die APIs von Health Navigator verzichten: Noch bevor das Start-up die Übernahme durch Amazon vermeldete, gab es bekannt, dass es bestehende Kundenverträge auslaufen lässt.
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