Hunderte bisher rezeptfreier, aber apothekenpflichtiger Medikamente werden in der Schweiz ab 2019 auch in Drogerien erhältlich sein. Andererseits sollen Apotheken rund 100 bisher freiverkäufliche Medikamente nur noch mit einer ärztlichen Verordnung oder nach Prüfung der Personalien abgeben dürfen. Einen entsprechende Übersicht hat nun die Schweizer Heilmittelbehörde Swissmedic veröffentlicht. Der Krankenkassenverband und die Pharmaindustrie warnten bereits im Vorfeld vor steigenden Kosten und zusätzlichen Restriktionen.
Um die Selbstmedikation zu vereinfachen, beschloss der Bundesrat, die Arzneimittel in der Schweiz neu einzuteilen. Dazu soll die bisherige Abgabekategorie C, die eine Beratung durch Fachpersonal voraussetzt, abgeschafft werden. Im Rahmen der Revision des Heilmittelgesetzes beurteilte nun die Heilmittelbehörde mit Sitz in Bern unter Einbezug externer Experten insgesamt etwa 650 Arzneimittel, davon 22 Tierarzneimittel. Dabei standen laut Swissmedic auch Aspekte des Medikamentenmissbrauchs sowie mögliche Wechselwirkungen im Vordergrund.
Rund 85 Prozent und 550 Medikamente aus dieser Kategorie werden nun in die Kategorie D herabgestuft, wie Swissmedic mitteilte. Darunter fallen etwa Iberogast, Sinupret, Buscopan, Talcid, Loperamid oder Voltaren Dolo forte und pflanzliche Arzneimittel mit Johanniskraut. Für diese Arzneimittel wird künftig lediglich eine Fachberatung vorausgesetzt, egal ob durch Drogerie oder Apotheke. Patienten sollen zudem mit einem Warnhinweis auf der Verpackung für die erforderliche Fachberatung sensibilisiert werden.
Rund 15 Prozent der überprüften Arzneimittel wurden dagegen in die Kategorie B heraufgestuft. Zwei Drittel der insgesamt rund 100 Medikamente enthalten Opiatderivate als Wirkstoffe (Codein oder Dextromethorphan) und wurden von Swissmedic als Stoffe mit einem erheblichen Missbrauchspotential eingeordnet. Codeinhaltige Arzneimittel können in Zukunft nur durch Personen mit einer Betäubungsmittelbewilligung abgegeben werden. Ergänzend zum Missbrauchspotential gebe es bei vielen dieser Arzneimittel zusätzlich ein erhebliches Risiko von schwerwiegenden Wechselwirkungen, begründete die Behörde ihre Entscheidung. Bei den anderen für die Abgabekategorie B vorgesehenen Arzneimitteln seien es vorwiegend schwerwiegende Wechselwirkungen mit anderen verschreibungspflichtigen Medikamenten oder eine zwingend notwendige Dokumentation der Abgabe, welche eine Fachberatung durch ein Fachpersonal, wie Ärzte und Apotheker, erfordern.
Betroffen sind also solche Arzneimittel wie etwa Hustensirup mit dem Wirkstoff Codein. So wird etwa der codeinhaltige Hustensaft Makatussin ab dem 1. Januar 2019 nur noch auf Rezept erhältlich sein. Wird das Medikament nicht von einem Arzt verschrieben, muss der Apotheker ein Beratungsgespräch durchführen. Die Abgabe muss dann dokumentiert werden.
Der mediale Aufschrei war groß. „Hustensaft nur noch auf Rezept“, so oder so ähnlich titelten zahlreiche Medien. Für die Konsumenten ändert sich dadurch offenbar nicht viel: Schon heute würden die meisten Apotheken den Hustensaft nicht ohne Rezept herausgeben, vor allem nicht an Jugendliche. Denn das Medikament wird oftmals als Rauschmittel missbraucht: „Wir gehen davon aus, dass mittlerweile 80 Prozent des Makatussin-Konsums missbräuchlich sind“, sagte der Berner Kantonsapotheker Samuel Steiner dem Nachrichtenportal 20min.ch.
Im Rahmen der Revision des Heilmittelgesetztes überprüft Swissmedic aktuell außerdem auch 400 Arzneimittel der Kategorie D, die heute nur nach Fachberatung in Apotheken und Drogerien erhältlich sind. Welche dieser Produkte künftig im Supermarkt freiverkäuflich sein werden, soll „in den nächsten Wochen“ bekanntgegeben werden.
Bereits vor der Bekanntgabe der Liste warnte Krankenkassenverband Santésuisse vor höheren Kosten. „Wir befürchten, dass die Prämienzahler mit Mehrkosten konfrontiert werden“, wird ein Sprecher bei 20min.ch zitiert. Das wichtigste Anliegen der Kassen sei aber eine Dämpfung des Kostenwachstums im Gesundheitswesen. „Denn wenn die Kosten steigen, steigen schlussendlich auch die Prämien“, sagte er. Das wolle man nicht. Ähnliche Befürchtungen äußerste auch Sara Stalder, Geschäftsleiterin bei der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS). Der Bund sollte die Spezialitätenliste für Arzneimittel lieber bereinigen und sie nicht noch weiter ausbauen. „Denn die Ärzte und Apotheken werden so immer die teureren, von der Krankenkasse bezahlten Medikamente verschreiben, weil sie eine höhere Marge haben und mehr daran verdienen“, behauptete sie auf 20min.ch.
Zusätzliche Restriktionen und die Rezeptpflicht für bisher freiverkäufliche Medikamente würden weder den Patienten noch dem Gesundheitssystem dienen, sagt Marcel Plattner, Präsident der Vereinigung Pharmafirmen in der Schweiz (VIPS). Einerseits sei es positiv, dass die überwiegende Mehrheit der Medikamente aus der Kategorie C schon bald auch in Drogerien verkauft werden dürfen. Das schaffe Effizienz. Ärzte würden entlastet und die Verfügbarkeit von Medikamenten und damit auch die Versorgungssicherheit verbessert. Gleichzeitig würden die Kosten gesenkt.
Als Widerspruch zu den Liberalisierungstendenzen sieht Plattner dagegen, dass einige Medikamente nun in die Kategorie B heraufgestuft werden. Das mache aus der Sicht der Patienten keinen Sinn, sondern sei als Aufziehen neuer protektionistische Zäune zu werten. Die neue Rezeptpflicht würde seiner Auffassung nach vielmehr zu erheblichen Mehrkosten im Gesundheitssystem führen. Es sei ein Fakt, dass es heute kein einziges Produkt auf dem Markt sei, das in der Apotheke ohne Rezept bezogen werden könne und gleichzeitig so bedenklich wäre, dass es eine Konsultation bei einem Arzt oder ein Rezept benötigen würde.
Anders sieht das nicht nur Swissmedic, sondern auch etwa die Stadt Zürich. Auf der Plattform Saferparty.ch, die unter anderem von der Stadt betrieben wird, steht, dass ein Codein-Entzug bei längerer Einnahme genau so lang und schmerzhaft sein kann wie bei Heroin. Laut Experten kann der Wirkstoff rasch zu einer Abhängigkeit führen, die Entzugserscheinungen wie Krämpfe und Übelkeit mit sich bringt. Diese sind zudem erheblich stärker als bei anderen Drogen. In Deutschland ist Codein durch das Betäubungsmittelgesetz als verschreibungsfähiges Betäubungsmittel eingestuft, wobei niedrige Dosen beziehungsweise Mengen von betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften ausgenommen sind, solange sie nicht an betäubungsmittel- oder alkoholabhängige Personen verschrieben werden. Anfang 2017 zog Frankreich nach und führte eine Rezeptpflicht für codeinhaltige Arzneimittel ein.
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