TI: Sinnloser Kabelsalat Tobias Lau, 25.01.2021 15:26 Uhr
Was haben sich Apotheker und Ärzte in den vergangenen Jahren mit der Einführung der Telematikinfrastruktur (TI) herumgeschlagen. Es ist fast geschafft: Weniger als ein Jahr, dann soll alles stehen. Und plötzlich kommt die Nachricht: Es war für die Katz. Ein neues, zeitgemäßes System muss her. Dass das jetzige veraltet ist, ist schon seit Jahren bekannt. Mit ihrem unnützen Festhalten daran hat die Politik nicht nur Millionen an Steuergeldern verbrannt und den Leistungserbringern im Gesundheitswesen unnötige Mühen aufgebürdet, sondern verspielt auch erneut deren Vertrauen, kommentiert Tobias Lau.
Die Gematik spricht von einem „langen deutschen Dornröschenschlaf“, aus dem das Gesundheitswesen erwacht sei. Das ist irreführend: Viele individuelle Leistungserbringer mögen die Digitalisierung tatsächlich verschlafen haben. Wenn jedoch ihre Spitzenorganisationen gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) im Jahr 2005 ein Gemeinschaftsunternehmen gründen, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen – damals in Form der elektronischen Gesundheitskarte – umzusetzen, dann aber ausschließlich jahrelange Beschäftigungstherapie samt mehrerer Gesellschafterwechsel folgt, dann wurde da nichts verschlafen. Denn Problem und Zielstellung sind seit mehr als 15 Jahren bekannt und allen bewusst. Statt gut durchdacht und Stück für Stück nachhaltige Strukturen zu schaffen, wurde jahrelang herumgeeiert und dann von oben herab verordnet, dass mit einem Ruck alles klappen soll.
Es handelt sich schlicht um das jahrzehntelange Versagen mehrerer CDU-geführter Bundesregierungen. Wer sich die sonstige digitale Infrastruktur in Deutschland ansieht, merkt, dass das Problem nicht auf das Gesundheitswesen beschränkt ist. Auf jedem norwegischen Fjord oder anatolischen Bergdorf hat man besseres mobiles Internet als in manchen Ecken der deutschen Hauptstadt. Hier wie da ist es ein strukturelles Problem: Es hat sich gezeigt, dass die hiesigen politischen und bürokratischen Strukturen mit ihrer Besitzstandswahrermentalität und ihren Grabenkämpfen nicht in der Lage waren, das Gesundheitswesen angemessen auf die technische Höhe der Zeit zu tragen. Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen bewährt sich in vielen Bereichen, sie ist aber gerade bei solchen Makroprozessen nicht in der Lage, alles allein zu stemmen und braucht politische Führung. Das hat sie beim Thema Digitalisierung hinreichend bewiesen.
Die Entwicklung und Umsetzung von Telematikinfrastruktur samt E-Rezept und ePA sind da bezeichnend: Bis man endlich so weit war, dass man das System umsetzen kann, war es schon veraltet. Also führt man es trotzdem ein, kündigt aber an, es wenige Jahre nach seiner Einführung durch ein Modell zu ersetzen, das jetzt gerade aktuell ist. Also genauso, wie die jetzt eingeführte TI vor 10 Jahren auf dem Stand der Zeit gewesen sein mag, als man ihre Einführung beschloss. Die Erkenntnis, dass die aktuelle Struktur nicht mehr zeitgemäß ist, basiert laut Darstellung der Gematik auf Leitfadeninterviews, die sie im Sommer 2020 mit ihren Gesellschaftern geführt hat. Im Sommer 2020.
Nun könnte man sich angesichts dieses absurd anmutenden Prozesses herzlich über die deutsche Wurstigkeit und die Innovationsunfähigkeit bei gleichzeitiger Selbstbeweihräucherung als Hochtechnologiestandort lustig machen. Doch Apotheker, Ärzte und anderen Leistungserbringer dürften nicht amüsiert sein. Seit Jahren schlagen sie sich mit dem Thema herum, die Ärzte sind dabei sogar noch leiderprobter als die Apotheker, auch das ist nicht alltäglich.
Die angeordnete Digitalisierung der Arbeitsprozesse wurde nicht nur als zusätzliche Last zum durchbürokratisierten und wirtschaftlich immer unberechenbareren Kerngeschäft empfunden. Vielmehr wurden auch die Ängste, dass mit den neuen Prozessen im Gesundheitswesen auch eine weitreichende Verschiebung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse vonstattengeht, durch die politischen Weichenstellungen keineswegs ausgeräumt – Stichwort: E-Rezept und Hollandversender.
Auch die umgebenden Märkte von den Softwarehäusern bis zu den Großhändlern beharken sich der Digitalisierung wegen nicht nur auf dem Rücken der Apotheker und Ärzte, sondern arbeiten seit Jahren daran, mit neuen Anwendungs- und Geschäftsmodellen Strukturen aufzubauen, damit die etablierten Leistungserbringer sich in der digitalen Zukunft behaupten können. Und nach all dem Aufwand kommt nun die Nachricht: Das war ein Schuss in den Ofen. Jetzt heißt es: Trotzdem durchziehen und während sich das neue, veraltete System etabliert, wird direkt ein neues aufgesetzt. Dass das erneut nicht ohne Probleme und Verwerfungen ablaufen wird, ist absehbar. Außerdem lässt die Skizzierung des neuen Systems bereits schlimmes erahnen: Auch gesetzlich nicht mandatierte Player sollen künftig flexibler eingebunden werden können. HBA und SMC-B liegen in Heerlen und Venlo bereits in der Schublade.
Und dabei sind die hunderten Millionen Euro an Steuergeldern noch gar nicht erwähnt, die durch das Festhalten an einem veralteten Konzept verbrannt wurden. Ebenso wenig erwähnt ist dabei ein Begriff, der zum Grundrepertoire gesundheitspolitischer Festtagsreden zählt: Vertrauen. Bereits jetzt hegen Apotheker und Ärzte große Ängste, dass ein großflächige technische Störungen oder schlimmstenfalls mutwillige Angriffe auf die TI Chaos im Gesundheitswesen verursachen könnten. Dass das kein theoretisches Szenario ist, hat das letzte Frühjahr gezeigt, als 80.000 Konnektoren wegen eines menschlichen Fehlers wochenlang nicht erreichbar waren. Nun soll also im laufenden Betrieb von der TI 1.0 in die TI 2.0 migriert werden. Die Gematik beteuert, dass das ohne Beeinträchtigung des Regelbetriebs möglich sein wird. Sie beteuerte aber bis zum vergangenen Frühjahr auch stets, wie sicher und stabil das bisherige System sei.
Dass sie sich damit irrte, hat die Gematik nun mit ihrem Whitepaper eingeräumt. Nur drei Jahre nach der vollen Inbetriebnahme soll die bisherige Telematikinfrastruktur deshalb schon wieder abgewickelt werden. Wobei man natürlich auch nicht vergessen darf: Die Gematik kündigt jetzt an, dass das in vier Jahren angegangen werden soll. Die bisherigen Erfahrungen mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens lehren allerdings: Statt 2025 kann es durchaus auch 2030 werden. Und bis dahin ist dann auch das jetzt aktuelle Konzept wieder veraltet und kann dann bis 2035 ersetzt werden.