Telemediziner: E-Rezept lieber später als unausgereift APOTHEKE ADHOC, 23.08.2021 07:56 Uhr
Die Forderungen werden immer lauter, die verpflichtende Einführung des E-Rezepts zu verschieben. Die Ärzteschaft hat sowieso ihre Zweifel, dass bis zum 1. Januar alles rund läuft, und auch aus den Standesvertretungen der Apothekerschaft werden immer mehr kritische Stimmen laut. Die Anbieter von Telemedizin und anderen digitalen Gesundheitsanwendungen gehören eigentlich zu den größten E-Rezept-Fans, schließlich erwarten sie, dass es ihnen den nächsten Boom beschert. Doch auch hier wachsen die Zweifel.
Es läuft nicht rund bei den Vorbereitungen auf das E-Rezept. Aus der Modellregion Berlin/Brandenburg sind bisher keine Erfolgsmeldungen zu hören und vor allem die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) mahnt seit Monaten, dass viele Softwarehäuser auch aufgrund der Zusatzaufgaben durch die Coronapandemie Schwierigkeiten haben, die notwendigen Anwendungen zu implementieren und zu integrieren. Der Ärzteschaft wird dabei attestiert, dass sie ohnehin keinen genuinen Nutzen – und entsprechend wenig Interesse – am E-Rezept habe. Anders sieht das bei Digital-Unternehmen wie Wellster aus, die unter anderem die Telemedizin-Anbieter Go Spring, My Spring und Hello Easy betreiben.
Die Teledmezin erhofft sich vom E-Rezept den nächsten großen Boom nach der Corona-Pandemie, wie erst kürzlich wieder eine Umfrage belegte. „Wir bieten derzeit alles auf Selbstzahlerbasis und heute schon gewinnen wir einen Großteil unserer Patienten aus dem Segment, die ohne Digitalangebot nie wegen ihres Problems zum Arzt oder Apotheker gegangen sind. Wenn uns das E-Rezept den Zugang zur Erstattungsfähigkeit erleichtert, könnten wir unser Angebot weiter ausbauen und künftig auch noch mehr Indikationen mit vergleichbarer Unterversorgung abdecken“, sagt Wellster-Geschäftsführer Nico Hribernik. Aber auch bei ihm wachsen mittlerweile die Sorgen, dass das E-Rezept bei seiner Einführung sich aufgrund von Kinderkrankheiten zum Fehlstart entwickeln könnte.
„Generell wäre es natürlich wünschenswert, wenn alles schon ready wäre“, so Hribernik. „Die E-Rezept-Einführung sollte aber aus unserer Sicht nicht im Chaos versinken. Wir haben zu oft gesehen, dass Digitalprojekten ein Stempel aufgedrückt wird, wenn am Anfang etwas schiefgeht.“
Die Probleme bei den Impfzertifikaten hätten gezeigt, wie schwierig ein solches Projekt im Gesundheitswesen sein kann – und das E-Rezept ist von ungleich größerer Bedeutung und Komplexität. „Aus meiner Sicht sehen wir aktuell vor allem Prioritäten- und Kapazitätsprobleme, das haben die Impfzertifikate gezeigt. Das begründet aus meiner Sicht auch eine Verschiebung“, so Hribernik. Insbesondere bei Datenschutz und -sicherheit müssten höchste Standards sichergestellt sein und das habe Priorität vor dem Startdatum. „Es sollte keine Einführung stattfinden, nur um einen Stichtag zu halten, damit politische Akteure da keinen Prestigeverlust erleiden“, sagt er.
Dabei wäre eine Verschiebung der flächendeckenden E-Rezept-Einführung auf Hriberniks Unternehmen nicht förderlich. Seit der Gründung des auf Männergesundheit sepzialisierten Telemedizinin-Anbieters Go Spring im Mai 2019 ist das Portfolio von Wellster kontinuierlich gewachsen: Im Oktober 2020 kam Hello Easy hinzu, das sich auf Themen der psychischen Gesundheit wie Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Erschöpfung spezialisiert hat, im September 2020 Easy Test, das medizinische Heimtests von Geschlechtskrankheiten über Darmkrebsvorsorge bis zu Covid-19-Antikörpern, Darmflora und Cholesterin anbietet, und in diesem März schließlich der Ableger My Spring, der auf androgenetische Alopezie, also genetisch bedingten Haarausfall bei Männern, spezialisiert ist. Insgesamt 1,3 Millionen telemedizinische Konsultationen und 150.000 Behandlungen habe Wellster bis zum Ende des zweiten Quartals dieses Jahres durchgeführt, auch in CallMyApo wurde Go Spring bereits integriert.
In zwei wissenschaftlichen Studien habe das Unternehmen bereits belegen können, dass vor allem sein Angebot zur Männergesundheit einen Versorgungsmehrwert hat: Vor allem bei schambehafteten Indikationen wie erektiler Dysfunktion trauen sich viele Männer nicht zum Arzt oder schieben den Besuch vor sich her. Durch die geringere Hemmschwelle bei der Telemedizin würden sich viel mehr Männer in Behandlung begeben: So seien 70 Prozent der Patienten von Go Spring zuvor noch nie mit ihrem Leiden in ärztlicher Behandlung gewesen. „70 Prozent aller Menschen lassen sich trotz Beschwerden nicht durch einen Arzt behandeln, zum Beispiel wegen Unwissenheit, Scham und Bürokratie. Deshalb ist die Einführung des E-Rezeptes dringend notwendig – die aktuelle Unterversorgung bleibt sonst bestehen“, sagt Hribernik.