Plattform und E-Rezept: Was denkt die Industrie, Herr Wieczorek? Patrick Hollstein, 02.01.2022 09:11 Uhr
Das E-Rezept ist aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Der Versandhandel hofft auf neue Umsätze, schon die Corona-Krise war Treibstoff für DocMorris & Co. Parallel drängen Plattformen und Lieferdienste auf den Markt – nicht nur die Apotheken müssen sich Gedanken machen, wie sie sich in dieser Gemengelage positionieren: Auch die Industrie steht vor wichtigen Fragen, wie Jörg Wieczorek, Vorsitzender des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH), erklärt.
Wieczorek geht davon aus, dass die Corona-Krise auch die Apotheke vor Ort gestärkt hat: „Gerade während der Covid-19-Pandemie konnte die Vor-Ort-Apotheke sich vielfach als erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Arztpraxen, Kliniken und Ambulanzen bewähren und somit diese entlasten. Da viele Menschen während der Pandemie die Vorteile der niedrigschwelligen Gesundheitsberatung erkannt haben, gehe ich davon aus, dass es sich immer mehr etablieren wird, bei leichteren Beschwerden zuerst die Apotheke aufzusuchen.“
E-Rezept beeinflusst OTC-Geschäft
Hinzu komme, dass das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem durch die Kosten der Pandemiebekämpfung, den demografischen Wandel und den medizinischen Fortschritt vermehrt unter Druck geraten werde. „Die Selbstmedikation im Zusammenwirken mit der heilberuflichen Beratung aus der Apotheke leistet bereits heute Enormes. Sie spart dem GKV-System viel Geld, und das Potential ist noch lange nicht ausgeschöpft.“ Wieczorek verweist auf eine aposcope-Befragung im Auftrag des BAH, bei der selbständige wie angestellte Apothekerinnen und Apotheker sowie PTA zu über 90 Prozent die große wirtschaftliche Bedeutung des OTC-Geschäfts bestätigt hätten. „Ich sehe also großes Potenzial, auch, weil es der Apotheke vor Ort hilft, ihre Zukunft zu sichern.“
ADHOC: Welchen Einfluss wird das E-Rezept generell auf den OTC-Bereich haben?
WIECZOREK: Sicher ist, es wird Einfluss haben, so wie insgesamt die Digitalisierung des Gesundheitswesens Einfluss auf die Versorgung der Menschen sowie die Arbeit der Heilberufe und aller weiteren Stakeholder haben wird. Verschiedene Szenarien zeigen auf, dass das OTC-Geschäft von der Entwicklung des E-Rezeptes nicht unberührt bleiben wird. Für den BAH ist essenziell, dass die freie Apothekenwahl Bestand hat und auch nicht durch technische Tricks oder Lücken ausgehebelt werden kann. Dafür sind wir nachweislich in allen relevanten Gesetzgebungsverfahren der letzten Jahre eingetreten und werden es auch weiterhin tun.
Ein zentrales Thema für den BAH ist das Grüne Rezept, das auch als E-Rezept funktionieren soll: „Technisch gestaltet sich das nicht anders als die Umsetzung beim Privatrezept. Die zuständigen Stellen müssen schlicht den durch das PDSG angelegten Weg umsetzen. Der BAH wirbt in zahlreichen Gesprächen sehr dafür, das Grüne Rezept auch in der E-Version zu ermöglichen, und wir sind zuversichtlich, dass das passieren wird.“
- Das Grüne Rezept
Die große Mehrheit der von aposcope befragten Apothekerinnen, Apotheker und PTA erkennt das große Potenzial des Grünen Rezepts. So gaben 81 Prozent an, dass es ein wichtiges Instrument für die Wahrnehmung von rezeptfreien Produkten durch Ärztinnen und Ärzten sei, und dies nicht ohne Grund. Denn zu 75 Prozent sagen sie, dass die Apothekenkunden stets den Produktempfehlungen der Arztpraxen folgen. Nach Ansicht von 66 Prozent der Befragten würden sich Ärztinnen und Ärzte durch das Grüne Rezept stärker mit rezeptfreien Produkten auseinandersetzen – ein Umstand, der letztlich auch das Geschäft der Vor-Ort-Apotheke fördert.
Plattformen als Chance
ADHOC: Wie wichtig werden Plattformen für die Apotheken?
WIECZOREK: Ich sehe in solchen Plattformen einen Game Changer – und das durchaus als Chance für die Apotheke vor Ort und weniger als Risiko. Über die App wird ein Direktkontakt zur wohnortnahen Apotheke hergestellt. Ich erhalte dort mein Arzneimittel meist innerhalb von wenigen Stunden – ein klarer Wettbewerbsvorteil gegenüber Versandapotheken, die teils aus anderen Ländern liefern. Hinzu kommt, dass es deutlich nachhaltiger ist, weil lange Versandwege entfallen. Doch Plattformen können nur einer von viele Bestandteilen der Zukunftssicherung sein. Jede Apotheke muss hier die für sich passende Strategie finden.
ADHOC: Wie wichtig werden Plattformen für die Industrie – zum Beispiel als Marketing- und Vertriebskanal?
WIECZOREK: Wie die Apotheken müssen sich auch die Arzneimittelhersteller mit der Plattformökonomie auseinandersetzen, ihre Risiken richtig einschätzen und die Chancen ergreifen. Auch hier gilt, dass Plattformen nicht der alleinige Garant für einen zukünftigen Erfolg sind, die Chancen meines Erachtens aber deutlich überwiegen.
Die Hersteller hätten großes Interesse daran, ihre Produkte im Netz zu präsentieren. Dies sei auch eine Folge der Digitalisierung und des geänderten Verbraucherverhaltens, so Wieczorek: „Apotheken wie Hersteller müssen sich auf die sogenannte Customer- oder Patient-Journey von heute und von morgen einstellen. Sie müssen die Menschen dort abholen, wo sie sind, und auf sie eingehen, mit ihnen kommunizieren, wie sie es sich wünschen. Wenn wir es gut machen, werden die Menschen in der Offizin oder auf der Website der Apotheke vor Ort landen.“
Webshops nur als Schaufenster
Dass zahlreiche Anbieter von frei verkäuflichen Produkten nicht nur Apothekenfinder haben, sondern mittlerweile eigene Webshops haben, sieht Wieczorek nicht als Problem: „Der Vertrieb von frei verkäuflichen Produkten, also nicht apothekenpflichtigen Produkten, steht vor dem herausfordernden Wettbewerb mit Supermärkten, Drogeriemärkten, Apotheken, E-Commerce und so weiter. Verbraucherinnen und Verbraucher sind es gewohnt, auf den Webseiten der Hersteller nach Informationen zu suchen. Die Hersteller wissen, wie man entsprechende Informationen so aufbereitet, dass sie einen Mehrwert bieten. Ein Webshop kann somit eine Möglichkeit des Herstellers sein, seine Produkte zu zeigen. Nicht selten wird dabei den Verbrauchern auch eine Suchfunktion angeboten, mit der sie Apotheken in ihrer Nähe finden können.“
ADHOC: Wie stark ist das Bedürfnis der Industrie nach einem eigenen D2C-Kanal auch für apothekenpflichtige Produkte?
WIECZOREK: Wir halten fest, apothekenpflichtige Arzneimittel werden von Apotheken abgegeben. Das mag man in anderen Ländern mit anderen Gesundheitssystemen anders handhaben. Unser System in Deutschland ist mit dem Zusammenwirken von apothekenpflichtigen Arzneimitteln und der Beratung und Abgabe durch Apotheken bisher sehr gut gefahren. Weshalb sollten wir daran etwas ändern? Spüren die Menschen diesen Mehrwert immer wieder auf das Neue und erleben sie, dass ihren Wünschen Rechnung getragen wird, werden sie weiter in ihre Apotheke gehen – und in dieser hoffentlich auch immer mehr auf digitale Angebote der Apotheke vor Ort hingewiesen werden.
Apotheken vs. Mass Market
Dass immer mehr Firmen ihre Produkte nicht mehr als Arznei-, sondern als Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt bringen, ist laut Wieczorek eine Folge europäischer Gesetzgebung, aber auch veränderter Verbraucherinteressen. „Dem müssen sich die Hersteller im Wettbewerb stellen. Aber auch das pharmazeutische Personal aus den Apotheken hat in der aposcope-Umfrage die Entwicklung so bewertet, dass die Bedeutung der rezeptfreien Arzneimittel ungebrochen hoch bleibt, jedoch die wirtschaftliche Bedeutung von Nahrungsergänzungsmitteln und stofflichen Medizinprodukten steigt.“ Das habe auch damit zu tun, dass die Apotheken in diesen Segmenten im scharfen Wettbewerb mit Drogeriemärkten, Supermärkten und Online-Angeboten stünden. „Das ist eine wesentliche Motivation, die Angebotsvielfalt zu erhöhen und das Sortiment generell breiter aufzustellen. Der wesentliche Vorteil für die Kundinnen und Kunden: Die Vor-Ort-Apotheken erfüllen hier ebenfalls die wichtige Aufgabe der Beratung und bei der Frage, welches Produkt für den einzelnen Menschen sinnvoll ist und wann Alternativen geboten oder zu empfehlen sind.“
Aber gefährdet dies nicht den exklusiven Status der Produkte und am Ende auch die Apothekenexklusivität? Dobensana etwa wird bereits direkt durch Amazon verkauft – mit Abo und Black-Friday-Rabatt. „Der BAH sensibilisiert bereits seit vielen Jahren die Fachöffentlichkeit – also auch die Hersteller und Heilberufe – dafür, Arzneimittel nicht zu triviliarisieren und entsprechende Handlungen kritisch zu hinterfragen“, so Wieczorek. Dennoch könne und dürfe man keine konkreten Empfehlungen für oder gegen bestimmte Aktionen einzelner Marktbeteiligter geben. „Das gebietet das Kartell- und Wettbewerbsrecht.“
Keine Angst vor OTC-Switches
Auf der anderen Seite setzt der BAH große Hoffnung in OTC-Switches, auch wenn einige Apotheker:innen und PTA diesbezüglich zurückhaltend sind. „Da mag vieles mit reinspielen: Unsicherheit gegenüber den Ärzten, Skepsis über drohenden Margenverlust, Sorge, dass nach Rezeptfreiheit die Freiverkäuflichkeit folgt – vielleicht auch die Angst vor der eigenen Courage. Dies alles muss man ernst nehmen. Fakt ist aber auch, für eine zukunftssichernde Weiterentwicklung der Vor-Ort-Apotheken müssen die Apothekerinnen und Apotheker bereit sein, mehr Verantwortung zu übernehmen, wie sie es jetzt in der Pandemie oder beim Impfen doch bereits erfolgreich tun. Wir sind der Ansicht, dass gerade erklärungsbedürftige Produkte die Vor-Ort-Apotheke stärken – denn die heilberufliche Beratung und die Apothekenpflicht sind doch deren USP.“
Und schließlich treibt die Industrie die Frage um, wie sie sich und ihre Produkte im Rahmen von neuen integrativen Behandlungs- und Präventionskonzepten positionieren können. „Dazu müssen wir uns vertieft Gedanken machen, neue Ansätze wagen und dabei herausstellen, was Apotheken vor Ort können. Der BAH arbeitet intensiv an Strategien zur Unterstützung der Apotheken vor Ort.“
Ein Beispiel ist das Thema Tabakentwöhnung auf Rezept. Hier hat der Gesetzgeber einen möglichen Weg skizziert, der nun auf seine Ausgestaltung durch den G-BA wartet. „Der BAH verfolgt diese Entwicklung eng. Für uns ist es aber sehr bedeutsam, auch über Programme nachzudenken, die das eigenverantwortliche Handeln der Menschen unterstützen. Hier können die Hersteller mit Produkten, Informationen und zunehmend auch mit digitalen Lösungen, also zum Beispiel DiGA, maßgeblich unterstützen. Die Apotheken vor Ort sollten ebenfalls bereit sein, diese neuen Wege zu denken und mitzugehen – das ist gewiss auch ein Thema im Bereich beziehungsweise Umfeld der pharmazeutischen Dienstleistungen.“