Einen Tag vor dem bundesweiten Start des E-Rezepts zog die Gematik die Notbremse, der Roll-out wurde abgeblasen. Dass es nicht rund lief, war vorher schon bekannt – aber nur hinter vorgehaltener Hand und anonym geäußert worden. Drei Monate lang kam keine Einschätzung zum bisherigen Verlauf des Projekts. Dann nannte die Gematik als Ursache vor allem Versäumnisse bei Ärzten, Apothekern und Kassen – obwohl Projektbeteiligte andere Gründe schildern. Mit ihrem intransparenten Vorgehen hat die Gematik nun auch bei den Kassen Unmut verursacht, wie die Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK) einräumt.
Die Gematik hatte vergangene Woche bis zum letzten Moment gewartet, um einzuräumen, dass die bisherige Testphase in der Fokusregion Berlin-Brandenburg ihr Ziel verfehlt hat: Vergangenen Donnerstag, einen Tag vor Beginn des vierten Quartals, erklärte sie, dass der lokale Testlauf um weitere zwei Monate verlängert wird. „Wie sich eine anschließende bundesweite Einführungsphase gestaltet, wird im Rahmen der weiteren Testphase entschieden“, hieß es da.
Als Gründe für die erneute Verschiebung gab sie an, dass „noch nicht alle Anbieter der Praxis- beziehungsweise Apothekenverwaltungssysteme das für das E-Rezept notwendige Update bereitstellen“ können. „Noch nicht alle“ heißt: Bis dahin gab es mit Quincy und Turbomed zwei von insgesamt rund 130 Praxisverwaltungssystemen, die das konnten. In den Apotheken waren nur Pharmatechnik und Awinta von Noventi in der Lage dazu. Es gelte: „Je schneller die Bereitstellung der Updates erfolgt, desto besser.“
Den zweiten Grund für die Verschiebung gab die Gematik nicht bei den Arzt- und den Apothekensoftwarehäusern an, sondern bei den Krankenkassen: „Viele Versicherte“ hätten noch nicht die neueste Generation der elektronischen Gesundheitskarte mit NFC-Schnittstelle und dazugehöriger PIN. Die seien jedoch Voraussetzungen, um die E-Rezept-App in vollem Umfang nutzen zu können. Dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) würden „seit wenigen Tagen“ Zusagen weiterer großer Krankenkassen vorliegen, die sich nun ebenfalls aktiv an der Testphase beteiligen werden.
„Viele Versicherte“ heißt: im Prinzip fast alle. Kurz vor Start der E-Rezept-Erprobung hatten von den 73 Millionen gesetzlich Versicherten in Deutschland nur wenige tausend einen Zugang zum NFC-Verfahren. Unter den 27 Millionen AOK-Versicherten beispielsweise waren nur 2000 PINs ausgegeben worden – also an 0,007 Prozent. Weitere Gründe für die Verzögerungen gab die Gematik nicht an. „Die Gematik hat die technischen Voraussetzungen für das E-Rezept fristgerecht umgesetzt und bereitgestellt, und die bisherige Testphase zeigt: Das E-Rezept funktioniert“, erklärte CEO Dr. Markus Leyck Dieken. Doch offensichtlich regt sich Widerstand gegen diese Darstellung.
Die SBK beispielsweise hinterfragt die Erklärungen der Gematik. „In der Testphase des E-Rezeptes in Berlin-Brandenburg hat sich noch einmal deutlich gezeigt, dass gerade bei der dahinter liegenden Infrastruktur noch unheimlich viel zu tun ist“, so eine Sprecherin der SBK. Natürlich sei es wichtig, eine nutzerzentrierte App zu programmieren, und genauso wichtig, nutzerfreundliche und trotzdem sichere Zugangswege zu den Anwendungen zu etablieren, so die Sprecherin mit Blick auf die schleppende Bereitstellung von Versichertenzugängen zur Gematik-App. „Das nützt aber alles nichts, wenn die dahinter stehenden Systeme nicht bereit sind. Und genau hier liegt ja aktuell das Problem, bei der Ausstattung der Arztpraxen.“
Denn die Probleme waren nach Angaben Beteiligter weitaus vielfältiger als die geringe Zahl von bereiten Softwarehäusern und Versicherten. Sie reichen demnach von Fehlern in der sogenannten Referenzumgebung der Telematikinfrastruktur (TI) über die Kompatibilität der verschiedenen Systeme bis hin zu den Schnittstellen zu den Kostenträgern. Aus dem Kreis der Softwaredienstleister für die Kostenträger heißt es ebenfalls, dass dort außer Demo-Datensätzen noch nichts angekommen sei. Ein weiteres Problem seien Lesefehler bei den ausgedruckten Data-Matrix-Codes gewesen. Viele Praxisdrucker seien nicht in der Lage, die Codes lesekonform zu drucken. Ein Testlauf mit einem Nadeldrucker habe demnach zu einer Druckdauer von 50 Sekunden geführt – eindeutig zu lang für den Praxisalltag.
Während Abda-Präsidentin Gabriele Overwiening die Entscheidung zum Roll-out einen Monat der der verpflichtenden E-Rezept-Einführung verteidigt, stößt bei der SBK auf wenig Verständnis, dass die Gematik, die als mehrheitlich bundeseigenes Unternehmen mit Steuergeldern einen gesetzlichen Auftrag umsetzt, eine solche Geheimniskrämerei um den Stand der Entwicklung betreibt. „Was wir uns aber auf jeden Fall gewünscht hätten, wäre mehr Transparenz in der Testphase gewesen. Es gab viele Gerüchte, dass es nicht gut läuft, aber nur wenige klare Aussagen“, so die SBK, die zwar anders als AOK Nordost und IKK Classic nicht zu den beiden offiziellen Testkassen der Region gehört, sich aber dennoch – wie alle anderen Kassen auch – auf die Einführung des E-Rezepts vorbereiten muss. „Auch wir wussten erst einen Tag vorher, dass die bundesweite Ausweitung der Tests abgesagt wird“, so die Sprecherin. „Das macht es enorm schwierig, sich auf die Entwicklungen vorzubereiten und auch die Fragen unserer Versicherten kompetent zu beantworten. Das schadet dem Vertrauen in die Institutionen des Gesundheitswesens und in die Digitalisierung.“
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