Gematik: Das 900-Millionen-Euro-Invest Patrick Hollstein, 02.02.2024 11:22 Uhr
Das E-Rezept ist da – und wenn sich die Wogen erst einmal geglättet haben, wird Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sich sicherlich dafür noch feiern lassen. Das Projekt läuft seit knapp 20 Jahren und wird in Kürze einen Milliardenbetrag gekostet haben. Ein Ende ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Alleine in den kommenden drei Jahren sollen sich die Ausgaben für die Digitalisierungspläne noch einmal nahezu verdoppeln.
Deutschland gilt seit Jahren als Schlusslicht bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen, das wurde bei jeder Gelegenheit zur Schau gestellt. Dabei ist es nicht so, dass man sich nicht schon frühzeitig damit beschäftigt hätte: Bereits Anfang 2005 wurde die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte – die heutige Gematik – gegründet. Gemeinsam sollten Kostenträger und Leistungserbringer in diesem Gemeinschaftsunternehmen die Grundlagen für die Telematikinfrastruktur entwickeln und die Einführung von E-Rezept und elektronischer Gesundheitskarte (eGK) umzusetzen.
Weil lange nichts passierte, übernahm der Bund Anfang 2019 unter dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Mehrheit der Anteile. Zuvor hatte der Bundesrechnungshof (BRH) die anhaltende Hängepartie kritisiert, was in der Folge zu einem Zerwürfnis mit dem damaligen Geschäftsführer führte. Spahn setzte mit Dr. Markus Leyck Dieken einen Vertrauten ein, der für den Durchbruch sorgen sollte. Anfang 2022 wurde gesetzlich als Starttermin für das E-Rezept als erstes vorzeigbares Projekt festgelegt. Bekanntlich kam es anders, erst mit zwei Jahren Verspätung konnte der Roll-out wirklich starten.
Pauschale je Versichertem
An der Finanzierung änderte sich nach dem Einstieg des Bunds als Gesellschafter nichts. Die Kostenträger stellen der Gematik die erforderlichen Mittel zur Verfügung. Mit dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) wurde der Betrag vor drei Jahren von 1 auf 1,50 Euro erhöht. Neben dem Inflationsausgleich wurden im Gesetzentwurf die durch die „Dynamik der digitalen Veränderungsprozesse stark gewachsenen Aufgaben“ als Grund angeführt.
Gesetzliche Grundlage ist § 316 Sozialgesetzbuch (SGB V); allerdings kann das BMG den dort genannten Betrag entsprechend dem tatsächlichen Mittelbedarf und unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots die Höhe per Rechtsverordnung anpassen. Dies ist bereits mehrfach passiert: 2023 lag der Betrag bei 1,51 Euro und damit nur unwesentlich höher. In diesem Jahr müssen die Kassen laut Verordnung zur Anpassung des Betrags zur Finanzierung der Gesellschaft für Telematik (TeleFinV) 1,67 Euro je Mitglied zahlen, so sieht es die im Dezember veröffentlichte Verordnung vor.
Bei rund 73 Millionen gesetzlich Versicherten kann man sich leicht ausrechnen, welche Budgetmittel jährlich an die Gematik fließen. In seiner Stellungnahme zur gesetzlichen Anpassung hatte der GKV-Spitzenverband schon 2021 moniert, dass die jährlichen Zuwendungen dadurch auf rund 85 Millionen Euro erhöht wurden.
Mehr als 900 Millionen Euro
Auf Nachfrage bestätigt der GKV-Spitzenverband, dass von 2008 bis 2022 Zahlungen in Höhe von 774,6 Millionen Euro an die Gematik geleistet wurden.
Wie hoch die Aufwendungen des Verbands der Privaten Krankenversicherung (PKV) bislang sind, war auf Nachfrage nicht zu erfahren. Man zahle den Anteil entsprechend den PKV-Versicherten; darüber hinaus veröffentliche man keine Zahlen zu „vertraulichen Vertragswerken“. Der Verband ist seit April 2020 wieder mit 2,45 Prozent an der Gematik beteiligt.
Laut Gematik trägt die PKV 7 Prozent der Finanzierung, gemessen an den GKV-Zahlen könnte die Summe damit bei 58 Millionen Euro liegen. Ingesamt käme die Gematik so auf 833 Millionen Euro.
In der Bilanz der Gematik spiegeln sich diese Zahlen wider: Dort waren für 2022 Kapitalrücklagen in Höhe von 908 Millionen Euro zu finden, die die kumulierten Überweisungen aus dem Kreis Gesellschafter abbilden. Da kaum nennenswerte Umsätze gemacht werden, kommt es jährlich zu Millionenverlusten – und damit entsprechenden Verlustvorträgen, die sich 2022 auf 787 Millionen Euro summierten.
Während jedes normale Unternehmen längst vom Markt verschwunden wäre, kann die Gematik entspannt bleiben: „Die Gematik hat aufgrund ihres gesetzlichen Auftrages und des Gegenstandes ihrer Leistungen keine allgemeinen Absatzrisiken zu beachten. Weiter kann davon ausgegangen werden, dass für die Deckung von Bedarfen des Geschäftsbetriebs des Unternehmens allgemeine Geschäftsrisiken vernachlässigt werden können.“
Fehlende Praxistests
Dass die Digitalisierung erst einmal Geld kostet, ist unbestritten. Umso ärgerlicher ist allerdings, dass sich der trotz der bislang aufgewendeten Mittel gerade beim E-Rezept die vielen Schwachstellen zeigen. Elementare Prozesse in Praxen und Apotheken wurden offenbar nicht mitgedacht oder blieben unberücksichtigt. AOK-Vize Jens Martin Hoyer forderte daher, dass man spätestens jetzt aus den Erfahrungen lernen sollte und vor dem Start weiterer Projekte umfassende Praxistests durchführen muss, um die Akzeptanz der Digitalisierung in der Praxis nicht zu gefährden.
Außerdem musste mittlerweile die Gematik selbst einräumen, dass ihre Technik teilweise gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Längst wird über die TI 2.0 gesprochen, die ohne Steckkarten und Konnektoren auskommen soll. Und der Chaos Computer Club (CCC) wird nicht müde zu betonen, dass auch bei der ePa als nächstem Vorzeigeprojekt erhebliche Risiken bestehen.
789 Millionen Euro in drei Jahren
Mit dem Digitalgesetz und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) sollen jetzt die nächsten Schritte gegangen werden – weitere Kosten sind vorpogrammiert: Laut BMG sollen zwischen 2024 und 2027 „voraussichtlich einmalig Kosten in Höhe von rund 789 Millionen Euro“ anfallen. Diese teilen sich demnach auf verschiedene Aufgaben auf:
- Umsetzung der Beantragung digitaler Identitäten und elektronischer Gesundheitskarten aus der E-Rezept-App heraus
- Erweiterung der Pflichten der Dienstleister vor Ort auf weitere Dienstleister
- Umbau der elektronischen Patientenaktensysteme zu einer Opt-out-Anwendung sowie dem Aufbau eines initialen Widerspruchsverfahrens
- erstmalige Informationen zum E-Rezept
- Erstbefüllung der elektronischen Patientenakte mit Informationen
- Verpflichtung zur Digitalisierung von papiergebundenen medizinischen Dokumenten (Altbefunde) der Versicherten und Übermittlung in die elektronischen Patientenakte
Zusätzlich rechnet das BMG mit laufenden jährlichen Kosten in Höhe von 119,25 Millionen Euro. Alleine die elektronische Patientenatke (ePa) als Opt-Out-Variante schlägt mit rund 114 Millionen Euro jährlich zu Buche. Der Weiterbetrieb des Widerspruchsverfahrens kostet dabei schätzungsweise weitere fünf Millionen Euro pro Jahr.
Einsparpotenziale nicht bezifferbar
Dem gegenüber stünden aber „nicht näher bezifferbare Einsparpotenziale durch eine verbesserte Arzneimitteltherapiesicherheit sowie weitere Effizienzgewinne durch die bessere Verfügbarkeit von behandlungsrelevanten Daten und die Vermeidung unnötiger und belastender Doppeluntersuchungen“, so das BMG.